© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/07 06. Juli 2007

Mit dem Segen des Gesetzgebers
Lebensschutz: Während die Spätabtreibungszahlen stetig steigen, ist die politische Diskussion über eine Lösung eingeschlafen
Anni Mursula

Es geschehen immer noch Wunder: Am heutigen Freitag wird Tim  zehn Jahre alt. Dabei sollte sein Geburtstag im Sommer 1997 eigentlich sein Todestag werden. Weil bei Tim, bekannt als das "Oldenburger Baby", in der 25. Schwangerschaftswoche das sogenannte Down-Syndrom diagnostiziert wurde, entschied sich seine Mutter, ihn abzutreiben. Zum Entsetzen der Mutter und Ärzte überlebte er seine "mißglückte" Abtreibung. Doch von der verzögerten Hilfeleistung der Ärzte nach der Geburt hat er vermutlich noch zusätzlichen Schaden erlitten.

Heute lebt Tim bei Pflegeeltern im Landkreis Osnabrück. Trotz seiner vielen Behinderungen hat er sich laut seinen Pflegeeltern erstaunlich gut entwickelt. Dabei habe ihm vor allem die Delphintherapie geholfen, die durch Spenden finanziert wird. Als Ergebnis dieser Therapie könne Tim heute selbstständig aufstehen, recht sicher laufen, beim Anziehen mithelfen und mit seiner Umwelt zunehmend kommunizieren. "Er ist voller Lebensfreude", sagen die Pflegeeltern.

Daß in Deutschland abgetrieben wird, gehört heute zur Normalität. Die meisten verstehen die Aufregung der Lebensschützer nicht, schließlich ginge es dabei doch nur um "Zellklumpen". Aber daß hierzulande Babys getötet werden, die außerhalb des Mutterleibes bereits lebensfähig wären, also ab der 23. Schwangerschaftswoche - das wollen viele nicht glauben. Sie wissen auch nicht, daß wie bei Tim rund dreißig Prozent der Abtreibungen "mißlingen" und die Kinder erst überleben. Viele sterben ohne Versorgung nach den ersten Stunden, nur wenige haben soviel Glück im Unglück wie Tim. Um solche "Komplikationen" zu vermeiden, werden die Kinder deshalb immer öfter bereits im Mutterleib durch eine Kaliumchloridspritze getötet.

Ebenfalls gänzlich unbekannt ist, daß es in Deutschland nach der sogenannten "medizinischen Indikation" gar keine Frist für eine Abtreibung gibt. Eine zeitliche Grenze gibt es nur für die Abtreibung nach der "Beratungsregelung", die bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erfolgen muß. Doch "um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen und seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden", darf in Deutschland mit Segen des Gesetzgebers (Paragraph 218 Strafgesetzbuch) abgetrieben werden - sogar bis zum Einsetzen der Wehen in der vierzigsten Schwangerschaftswoche.

Dabei sollte alles nach der Neuregelung des Abtreibungsgesetzes im Jahr 1995 besser werden. Seitdem gilt unter anderem die 22. Schwangerschaftswoche nicht mehr als zeitliche Grenze für eine vorgeburtliche Kindestötung. Damit sollte der Gesundheit der Mutter zusätzlicher Schutz geboten werden. Doch viel wichtiger: Durch das neue Gesetz sollte vermieden werden, daß in Deutschland weiterhin nach der "embryopathischen Indikation" gezielt behinderte Kinder abgetrieben werden. Diese Art von Indikation wurde deshalb gänzlich aus dem Gesetz gestrichen.

Was damals als Sieg gegen die Diskriminierung von Behinderten gedeutet wurde, hat sich heute als das Gegenteil herausgestellt. Seit 1995 ist die Zahl der Spätabtreibungen gestiegen - seit 1996 sogar um 15,1 Prozent. Im letzten Jahr wurden in Deutschland 2.137 Kinder zwischen der 13. und 22. Schwangerschaftswoche und 183 Kinder ab der 23. Schwangerschaftswoche getötet. Doch Experten sprechen von einer hohen Dunkelziffer. Der Präsident der Ärztekammer Hamburg und Vorsitzende des Marburger Bundes, Frank Ulrich Montgomery, sagte gegenüber der Welt, daß jährlich sogar um achthundert Kinder nach der 22. Schwangerschaftswoche abgetrieben würden.

Dehnbare Formulierung bietet Umgehungsmöglichkeiten

Obwohl eine Behinderung des Kindes nun nicht mehr offiziell als Begründung für eine Abtreibung gilt, bietet die dehnbare Formulierung des Abtreibungsparagraphen zahlreiche Umgehungsmöglichkeiten. Auch Tims leibliche Mutter gab als Grund lediglich an, sie komme mit der diagnostizierten Behinderung ihres Kindes psychisch nicht klar. In der Regel wird so vorschnell die Abtreibung beschlossen, anstatt der Schwangeren Unterstützung anzubieten.

Denn es gibt keine Beratungspflicht für Eltern bei einer Abtreibung ab der 12. Schwangerschaftswoche. Laut dem Präsidenten des EKD-Kirchenamts, Hermann Barth, würden Mütter zu oft mit der Diagnose alleine gelassen und nicht richtig über die Behinderungen aufgeklärt. Somit entschieden sich viele aus reiner Panik für eine Abtreibung.

Zusätzlich kritisieren Lebensschützer, daß Eltern oft verschwiegen wird, wie unzuverlässig eine vorgeburtliche Diagnose immer noch ist: Eine Untersuchung der Berliner Charité ergab bei unerfahrenen Diagnostikern eine Fehlerquote von achtzig Prozent, bei erfahreneren Ärzten lag die Quote immer noch bei zehn Prozent. Somit bleiben viele Behinderungen bis zur Geburt unentdeckt, und viele völlig gesunde Kinder werden dagegen abgetrieben.

Aber nicht nur Eltern reagieren nach einer Diagnose oftmals panisch, auch Ärzte raten häufig vorschnell zur Abtreibung. Denn laut einem Urteil des Bundesgerichthofes von 2002 können Eltern behinderter Kinder den vollen Unterhaltsaufwand einklagen, wenn der betreuende Arzt die Behinderung bei der Untersuchung übersehen hat. Seitdem sind Ärzte sehr vorsichtig geworden.

Laut dem ärztlichen Direktor der Frauenklinik Ammerland in Westerende, Karl-Werner Schweppe, wird in der Praxis nahezu jedes Kind abgetrieben, bei dem eine nicht therapierbare Behinderung festgestellt wurde. "Ich habe in meiner dreißigjährigen Dienstzeit nur drei Frauen gehabt, die ihr Kind trotz diagnostizierter Behinderung behalten haben", sagte Schweppe auf einer Tagung zum Thema Spätabtreibung.

Eine Lösung noch in dieser Legislaturperiode

Vor allem die Union sieht beim Abtreibungsgesetz erheblichen Verbesserungsbedarf. Deshalb wurde eine "Überprüfung" entsprechender Paragraphen im Koalitionsvertrag beschlossen. Obwohl Union und SPD sich einig sind, daß in dieser Legislaturperiode eine Lösung gefunden werden sollte, wie das Ärzte, Kirchen und Lebensschutzgruppen fordern, ist die Diskussion momentan eingeschlafen.

 

Stiftung Ja zum Leben kämpft für den Schutz des Lebens und unterstützt Tim und seine Stiefeltern: www.ja-zum-leben.de, Telefon: 02 91/22 61, Dresdner Bank Meschede, BLZ: 440 800 50, Konto: 771220000

Foto: Abtreibungsüberlebender Tim während einer Delphintherapie: Seit 1996 ist die Zahl der Spätabtreibungen um 15,1 Prozent gestiegen


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