© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/07 13. Juli 2007

Im Namen der moralischen Hygiene
Vor sechzig Jahren fand der Nürnberger Juristenprozeß statt / Der Nachweis einer justitiablen Schuld gestaltete sich schwierig
Wieland Kurzka

In seinem Schlußwort berief sich der nüchterne Jurist Franz Schlegelberger pathetisch auf den "unbeugsamen Stolz eines reinen Gewissens". Seine Richter ließen sich nicht dadurch beeindrucken, konterten mit dem alliierten Bild von dem "unter der Robe des Juristen verborgenen Dolch des Mörders" und verurteilten ihn zu einer lebenslangen Haftstrafe.

Schlegelberger, der von Januar 1941 bis August 1942 das Reichsjustizministerium  als Staatssekretär kommissarisch geleitet hatte, war der ranghöchste der 14 Angeklagten, denen vom 17. Feburar bis 4. Dezember 1947 in Nürnberg der Prozeß gemacht wurde. Im Fall drei der insgesamt zwölf Nachfolgeprozesse zum Hauptkriegsverbrecherprozeß sollte vor dem auf der Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 eingerichteten US-Gerichtshof das durch die Justiz in der NS-Zeit begangene Unrecht, und zwar erklärtermaßen als Systemunrecht, verhandelt werden. Die Anklage betraf Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Zugehörigkeit zu bestimmten im Hauptkriegsverbrecherprozeß als verbrecherisch erklärten Organisationen. Konkret wurde den Angeklagten die Mitwirkung bei bestimmten verbrecherischen Aktionen des Regimes vorgeworfen, etwa bei den "Nacht-und-Nebel-Prozessen" gegen verschleppte Bewohner der besetzten Gebiete, bei der exzessiven Auslegung des Hochverratsstrafrechts, beim Schutzhaft- und KZ-System, bei der Duldung der Lynchjustiz an alliierten Fliegern und bei der Verfolgung und Vernichtung von Polen und Juden. Daneben ging es um Unrechtsverfahren vor den Sondergerichten, wie beispielsweise um den berüchtigten Fall Katzenberger.

Die Angeklagten bildeten als Richter, Staatsanwälte und Ministerialbeamte mit jeweils ganz unterschiedlichen Aufgaben und daher unterschiedlichen strafrechtlichen Verantwortlichkeiten keine homogene Gruppe, über die man in einem Verfahren hätte zu Gericht sitzen können. Wichtiger noch - sie waren lediglich die zweite Garde, da die eigentlichen Repräsentanten des Justiz­unrechts, also die beiden Justizminister Hitlers Franz Gürtner und Georg Thierack, der Präsident des Volksgerichtshofs Roland Freisler, der Präsident des Reichsgerichts Erwin Bumke tot und der ehemalige Leiter des Rechtsamtes der NSDAP und Generalgouvereur von Polen, Hans Frank, sowie der Reichs­innenminister Wilhelm Frick  bereits nach dem Hauptkriegsverbrecherprozeß 1946 hingerichtet worden waren. Die US-Richter auf der Gegenseite wurden der ihnen gestellten Aufgabe, das verbrecherische System anhand der Verantwortung der einzelnen Angeklagten zu beurteilen, nur unzureichend  gerecht. Der Wille, das Unwerturteil über Gesetzgebung und Rechtspraxis der NS-Zeit zu sprechen, verselbständigte sich bei ihnen so, daß sie kaum mehr einen Bezug zu der individuellen Verantwortlichkeit der einzelnen Angeklagten herstellten. In einem allgemeinen Teil des Urteils gaben sie einen wortreichen Überblick über die einzelnen Komplexe des Justizunrechts, um dann mehr oder minder kursorisch und vage darzustellen, inwiefern die Einzelnen damit zu tun hatten. Dem Verschuldensprinzip entsprach das Vorgehen nur, soweit es um die angeklagten Richter Oswald Rothaug und Rudolf Oeschey ging.

Fast noch verhängnisvoller als diese handwerklichen Defizite war der Umstand, daß die aus der amerikanischen Provinz (Ohio, Texas, Alaska) stammenden Richter kein Gespür für die Macht- und Lebensverhältnisse der NS-Diktatur mitbrachten, vielleicht sogar nicht mitbringen konnten. Sie verkörperten jene ebenso naive wie überhebliche Haltung, die sich schon in dem "Fragebogen" artikuliert hatte ("Wie können Sie die Tatsache erklären, daß ehrbare Menschen wie Richter und Juristen (...) ohne Protest zu Himmlers und Hitlers "Gestapo-Justiz" übergingen?") und die dem angeklagten Ex-Staatssekretär Rothenberger vorhielt, er habe nach einem dienstlichen Besuch des Konzentrationslagers Mauthausen "nicht seine Stimme gegen das Übel erhoben". In ihrem Urteil setzten sich die Nürnberger Richter nicht mit der Frage auseinander, ob die verurteilten Juristen Täter oder nur Gehilfen waren. Sie begingen damit nicht nur eine strafrechtsdogmatische Unterlassungssünde, sondern verbauten sich den Zugang zu der von ihnen angestrebten exemplarischen Aufarbeitung des Justizunrechts.

Die Wertschätzung des Rechtswesens und des Juristenstandes war bei der Führung im Dritten Reich unterentwickelt. Hitler und seine Vasallen hegten eine ordinäre Verachtung für die Juristen ("vollendete Trottel", "Krebsschaden für das deutsche Volk" etc.). Diese Verachtung korrespondierte mit einer verzweifelten Anbiederung von seiten der tonangebenden Juristen, die sich in eine Raserei von Ergebenheitsadressen hineinsteigerten. Je mehr ihre Existenzberechtigung in Frage gestellt wurde, etwa durch Verlagerung von Kompetenzen auf die Gestapo, umso mehr beeilten sie sich mit ihrer Musterknabenbeflissenheit, alles ins Werk zu setzen, was von ihnen verlangt wurde. Als dienstbare Geister halfen sie bei der Ausschaltung der politischen Gegner und bei der Verschleppung und Vernichtung von Kriegsgegnern und Juden unter anderem, indem sie ein pervertiertes Strafrecht mit ausformulierten bzw. anwandten, wie etwa das den mörderischen Atavismen Hitlers entsprungene "Blutschutzgesetz".

Dabei standen die meisten Angeklagten, insbesondere die Ministerialbeamten nicht voll hinter dem, was sie exekutieren sollten, hatten also insbesondere keinen Täterwillen. Sie versuchten sich damit zu beruhigen, daß sie immerhin das eine oder andere unternehmen konnten, um "Schlimmeres zu verhindern". So versuchte etwa Schlegelberger, die Polen- und Judenstrafrechtsverordnung zu entschärfen und sabotierte erfolgreich die Ermordung der sogenannten Judenmischlinge. Sieht man einmal von den verurteilten Sonderrichtern mit ihrer "Kopf-ab-Mentalität" ab, so fühlten sich die Angeklagten im fraglichen Zeitraum zudem bis zu einem gewissen Grad  als Gefangene eines Systems. Lediglich dem Staatssekretär Curt Rothenberger gelang es, sich 1943 in eine Notartätigkeit abzusetzen, als sein Minister Thierack immer fanatischer agierte. Widerstand gegen totalitäres Unrecht mit den Mitteln des Rechts war eben nur vor der "Machtergreifung" möglich. "Die Justiz ist kein potentielles Zentrum aussichtsreicher Gegenwehr gegen etablierte Unrechtssysteme" (Rüthers).

 Als Hitler beispielsweise gegen das Urteil des Sondergerichts Bielitz, das den Juden Markus Luftglass wegen eines Verbrechens nach der Kriegswirtschaftsverordnung zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt hatte, intervenierte und die Todesstrafe verlangte, ließ Schlegelberger Luftglass zur Exekution an die Gestapo überstellen und meldete der Reichskanzlei den Vollzug. Bernhard Diestelkamp bemerkte 1986 zu diesem auch im Nürnberger Prozeß angesprochenen Fall: "Das war Mord, begangen vom obersten Justizfunktionär des Reiches in Ausübung seines Amtes." Tatsächlich hätte kein noch so energischer Widerstand, keine Demission an dem Schicksal des Markus Luftglass etwas geändert. Schlegelberger war hier genausoviel bzw. -wenig Mörder oder Mordgehilfe wie der Henker.

So verhielt es sich in den meisten Komplexen, die den Juristen zum Vorwurf gemacht wurden. Überall gab es datierbare, dokumentierte und vom "Sekretär des Führers" Martin Bormann streng kontrollierte Entschließungen Hitlers, an denen es kein Vorbeimogeln gab. Was den Angeklagten neben den nur unzureichend nachgewiesenen "harten" Tatbeiträgen der Beihilfe vorgeworfen werden konnte, war letztlich eine nicht justitiable Lebensführungsschuld. Die moralische Hygiene hätte von ihnen verlangt, daß sie sich auch um den Preis eines Karriereknicks von den Zentralen des in Paragraphen gegossenen Unrechts fernhielten.

Obwohl das Urteil viermal auf lebenslänglich, viermal auf zehn Jahre und je einmal auf sieben und fünf Jahre Haft lautete - vier Angeklagte wurden freigesprochen -, waren bis auf eine Ausnahme 1951 alle Verurteilten wieder in Freiheit. Die Ex-Staatssekretäre Schlegelberger und Rothenberger wandten sich an das damalige "Entnazifizierungseldorado" Schleswig-Holstein und wurden dort in die Kategorie V (Unbelastete und Widerstandskämpfer) eingestuft. In den Folgejahren haben sich auch deutsche Gerichte mit dem Justizunrecht des Dritten Reichs befaßt. Dieses juristische "Insichgeschäft" war wegen der von der Rechtsprechung geschaffenen Auslegungsprivilegien zu dem Rechtsbeugungstatbestand ebensowenig eine Erfolgsgeschichte - der Bundesberichtshof sprach 1995 von einem "folgenschweren Versagen bundesdeutscher Strafjustiz" - wie die Bewältigung des Justizunrechts der DDR.

Die Zukunft wird zeigen, wie entsprechende Verfahren unter der Geltung des Völkerstrafgesetzbuchs von 2002 verlaufen werden. So wurde 2006 im Zusammenhang mit dem Vorwurf von Kriegsverbrechen im Irakkrieg bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe auch eine Anzeige gegen den US-Justizminister Alberto Gonzales eingereicht.

 

Wieland Kurzka, Jahrgang 1941, ist Rechtswissenschaftler und Philosoph. 2005 publizierte er das Buch "Im Paragraphenrausch. Überregulierung in Deutschland - Fakten, Ursachen, Auswege" (Resch-Verlag, Gräfelfing)

Foto: Der ehemalige Staatssekretär im Reichsjustizministerium Curt Rothenberger während seines Urteilsspruchs, 4. Dezember 1947: Später unter "Unbelastete und Widerstandskämpfer" entnazifiziert


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