© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/07 20. Juli 2007

Kolumne
Der abwesende Staat ist der schrecklichste
Klaus Motschmann

Eine beliebte, wenn auch reichlich zugespitzte Frage in staatsrechtlichen Prüfungen zu meiner Studienzeit lautete, welcher Staat der schrecklichste sei. Der nationalsozialistische Staat? Die kommunistischen Staaten von Lenin und Stalin bis zu Mao Tse-tung oder Pol Pot? Bestimmte islamische Gottesstaaten? Die Jakobiner-Diktatur der Französischen Revolution?

Keine dieser Antworten war beziehungsweise ist direkt falsch. Die erwartete und insofern "richtige" Antwort lautet jedoch: der abwesende Staat. "Richtig" deshalb, weil der abwesende Staat eine nötige Voraussetzung für die Entwicklung der genannten Staatsformen ist; noch dazu dann, wenn er die notwendigen Regelungen der gesellschaftlichen Probleme dem "freien Spiel der Kräfte" überläßt. Die Folgen sollten aufgrund der reichen geschichtlichen Erfahrungen bekannt sein.

In letzter Zeit mehren sich nun in den Medien Nachrichten über den "abwesenden" Staat zur Erklärung bestimmter politischer Ereignisse. Unlängst wurde zum Beispiel das Ergebnis einer Untersuchung vorgestellt, ob und wie die Berliner die Verbotsschilder zum Schutze der innerstädtischen Grünanlagen beachten, also das Verbot des Radfahrens, Grillens usw. Die keineswegs überraschende Antwort der Befragten lautete: überwiegend nicht. Die Erklärung für dieses Verhalten: Sie verstießen gegen den "gesunden" Menschenverstand und weil vom zuständigen Ordnungsamt - so wörtlich - "niemand zu sehen ist". Ein durchaus sympathischer Radfahrer erklärte unter dem Verbotsschild lachend, Verbote seien dazu da, daß man sie mißachtet. Läßt sich die vielzitierte Nachhaltigkeit der 68er-Emanzipationspädagogik noch besser demonstrieren?

Die Verbote, "den Rasen nicht zu betreten", waren schon immer Anlaß für Witzeleien - und ihre Beachtung ein Indiz für eine angeblich spezifisch deutsche Untertanengesinnung. Darauf zielen auch die jetzigen demonstrativen Regelverletzungen ab. Sie liefern auch an dieser Stelle des "deutschen Alltags" einen wirksamen Ansatzpunkt zur "Durchbrechung eines falschen Bewußtseins; zunächst nur an einer unendlich kleinen Stelle; aber von der Erweiterung solcher kleinen Stellen hängt die Chance einer Änderung" der Gesellschaft ab - so Herbert Marcuse, einer der maßgebenden Leitideologen der 68er. Der "abwesende Staat" begünstigt diese Erweiterung, der anwesende Staat minimiert sie. Sollte über diese offenkundigen Zusammenhänge nicht wieder einmal nachgedacht werden?

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste Berlin.


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