© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/07 20. Juli 2007

"Wunder undeutbar für heut"
Stauffenberg und das Geheime Deutschland
Baal Müller

Wenn in den üblichen Festreden zum 20. Juli dem ebenso üblichen Publikum verkündet wird, Stauffenberg habe ein "anderes Deutschland" als das nationalsozialistische verkörpert, ist dies reichlich mißverständlich formuliert; zur Geschichtsklitterung wird die Phrase aber, wenn in ihr die Andeutung mitschwingt, Stauffenberg habe seine Tat als Kampf und Opfer für Demokratie und Menschenrechte verstanden - der "Eid", den die Verschwörer einander gegeben haben, spricht mit seiner Betonung der "naturgegebenen Ränge" und der Verachtung der "Gleichheitslüge" eine andere Sprache. Daß Stauffenberg, mit dem man lange nicht viel anzufangen wußte, da ihn die einen noch als "Verräter", die anderen als "Reaktionär" sahen, nun doch in das Pantheon gründungsmythologischer Gestalten der Bundesrepublik aufgenommen wird, hat nicht nur damit zu tun, daß die dem Hitler-Attentat vorausgegangene Verschwörung viele einflußreiche Köpfe für ihre Ziele gewonnen hat und trotz ihres Zu-Spät-Kommens sowie ihres die moralische Wirkung über den Erfolg stellenden Bekenntnisses die relativ erfolgversprechendste und konzeptionell anspruchsvollste Opposition gegen den Nationalsozialismus darstellte, sondern auch damit, daß ihre geistigen Hintergründe weitgehend verblaßt und unverständlich geworden sind.

"Es lebe das heilige Deutschland" soll Claus Schenk Graf von Stauffenberg unmittelbar vor seiner Erschießung in der Nacht zum 21. Juli 1944 im Hof des Bendlerblocks gerufen haben; einige Quellen sprechen von dem Ausruf "Es lebe das geheime Deutschland". Hierfür spricht, daß Stauffenberg dem Kreis um Stefan George angehörte, der 1928 in seinem letzten Gedichtband "Das Neue Reich" ein Gedicht mit dem Titel "Geheimes Deutschland" veröffentlicht hatte.

Stauffenberg gehörte wie seine beiden Brüder Berthold und Alexander zu den engsten "Staatsstützen" des "Meisters" in dessen letzten Jahren, organisierte Georges Beerdigung am 5. Dezember 1933 in Minusio, bei der einige Jünger in der für den George-Kreis typischen zeremoniellen Weise den "Schlußchor" aus dem "Stern des Bundes" aufsagten, und sollte sogar, falls sein vom Dichter zum Nachlaßverwalter neben Robert Boehringer bestellter Bruder Berthold ausfallen sollte, den Nachlaß Georges hüten. Der Dichter, der sich immer stärker der Führung seines Kreises gewidmet hatte, stand seit 1923 im Mittelpunkt der kulturellen Interessen des jungen Mannes; besonders Georges "Geistesaristokratie", die nicht mehr nach überkommenen Privilegien fragt - "neuen adel den ihr suchet / Führt nicht her von schild und krone" heißt es im "Stern des Bundes" - stellte für den Abkömmling eines uralten schwäbischen Adelsgeschlechts eine Möglichkeit dar, an die 1918 abgebrochene Tradition schöpferisch anzuknüpfen; entsprechend gehörten zu den Verschworenen des 20. Juli, trotz der Dominanz preußisch-aristokratischer Kreise, auch Männer wie der Sozialdemokrat Julius Leber.

Weniger bekannt ist allerdings, daß der Begriff des "geheimen Deutschland" bereits eine Vorgeschichte hatte: Von Paul de Lagarde in dessen Schriften über "Die Religion der Zukunft" (1878) und "Über die gegenwärtige Lage des Deutschen Reiches" (1886) geprägt, wurde er von Julius Langbehn aufgegriffen, der von Rembrandt, Beethoven und Goethe als den "wahren Kaisern des geheimen Deutschland" sprach. Eine weniger explizite Linie läßt sich bis zu Hölderlin ziehen, der von dem George-Anhänger Norbert von Hellingrath wiederentdeckt wurde, zu Richard Wagner und zu den volkstümlichen Sagen vom Alten Kaiser im Berge.

Für den George-Kreis gewann der Begriff durch einen Aufsatz Karl Wolfskehls Bedeutung: "Die Blätter für die Kunst und die neueste Literatur", 1910 im ersten "Jahrbuch für die geistige Bewegung" veröffentlicht, einer im Gegensatz zu den der Dichtung gewidmeten "Blättern für die Kunst" programmatisch und kulturpolitisch ausgerichteten Publikation des Kreises. Wolfskehl bezeichnet dort die Sprache als den "Dämon jedes Volkstums, ein magisches Geheimnis, das zu hüten höchste Not ist, dem aber nur die Wenigsten Hüter sein dürfen". Mit diesen Wenigsten meint er die Mitarbeiter der "Blätter" mit George als leuchtendem Vorbild, die allein berufen seien, einen deutschen Stil zu prägen, den Deutschland, im Gegensatz zu den anderen großen Nationen, noch immer nicht gefunden habe. In diesem Zusammenhang fällt auch das Wort vom "geheimen Deutschland, aus dem jeder unserer Verse sein Leben und seinen Rhythmus zieht, dem unablässig zu dienen Glück, Not und Heiligung unseres Lebens bedeutet".

Zeigt sich auch bei Wolfskehl die Georgesche Einheit von Kunst und Leben, die es verbietet, Georges Dichtung als l'art pour l'art abzutun, so tritt in den zwanziger Jahren der lebensgestalterisch-kulturpolitische Impuls verstärkt in den Vordergrund, von dem sich Friedrich Wolters, der Verfasser des offiziösen Werkes über den George-Kreis "Stefan George und die Blätter für die Kunst" (1930), und Friedrich Gundolf, der als Germanist mit seinen monumentalen "Gestaltbiographien" bekanntgeworden ist, zu einer gewissen "Propagandatätigkeit" im Dienste des Georgeschen Staates verleiten ließen. Wolters war es auch, der anläßlich der Siebenhundertjahrfeier der Universität Neapel 1924 einen Kranz am Sarkophag ihres Gründers Friedrichs II. im Dom zu Palermo niederlegen ließ, der die Aufschrift trug: "Seinen Kaisern und Helden das Geheime Deutschland".

Gewiß hatte George nichts gegen diese Huldigung einzuwenden, feierte er doch selbst den "Grössten Friedrich" in seinem Gedicht "Die Gräber in Speier" als "wahren volkes sehnen" und trug damit wesentlich zu dem im Kreis gepflegten und besonders von Ernst Kantorowicz in seinem berühmten Werk "Kaiser Friedrich der Zweite" (1927) ausgeschriebenen Staufermythos bei. Und dennoch verfährt George anders als seine Jünger. 1928 schlägt das Pendel in Georges Gedicht "Geheimes Deutschland" wieder zurück: von einer "offiziellen" Heldenfeier zu einer Privatmythologie und Esoterik der Innerlichkeit, die neben die gerühmten großen Gestalten der Geschichte immer auch solche des eigenen Lebenskreises stellt, weithin Unbekannte, die dem Dichter in ihrer Besonderheit und der Schicksalhaftigkeit ihrer Erscheinung doch ein Allgemeines verkörpern. Wie viele Gedichte Georges ist auch dieses weitgehend unverständlich, wenn man die personenbezogenen Andeutungen nicht dechiffrieren kann; George schreibt gleichsam aus dem Kreis, über den Kreis und für seinen Kreis, eben für ein Geheimes Deutschland, dem die Münchner Kosmiker, Georges "Privatgott" und Gegenbild zu den chthonischen Kosmikern "Maximin" oder der Archäologe Hans von Prott, der sich nach einer Vision, in der ihm die griechischen Götter erschienen sind, zu Tode gestürzt hat, als mythische Figuren gelten konnten; das Gedicht ruft sie, neben anderen, in verhüllter Form auf und läßt sie einen noch ungehobenen Bedeutungsschatz verbürgen ("Schlummernder fülle schooss"), der dazu anreizt, aus dem vormals gefeierten Süden in die "heilige heimat" zurückzukehren, die noch viel "unbetretnes gebiet" aufweise und manches "Wunder undeutbar für heut" schlummernd bereithalte, das noch "Geschick wird es kommenden tages".

Da keine Prophetie etwas gänzlich Konkretes meint (sonst wäre sie Wahrsagerei) und doch auf ein Ereignis Bezug nimmt, das in der Zukunft zu liegen scheint (vielleicht aber auch immer geschieht), stellte sich 1933 nicht nur für manche George-Jünger die Frage, ob die nationalsozialistische Machtergreifung nicht doch als ein - wie unzulänglich und massenkonform auch immer angelegter - Versuch angesehen werden könnte, das "Neue Reich" des Dichters Gestalt werden zu lassen, zumal George eine "Ahnherrschaft", wie er sich mit einiger Ambivalenz ausdrückte, für die "neue nationale Bewegung" durchaus in Anspruch nahm, sich aber allen Vereinnahmungsversuchen wie dem Antrag, die Präsidentschaft der neuen Akademie für Dichtung zu übernehmen, und offiziellen Ehrungen anläßlich seines 65. (und letzten) Geburtstags konsequent entzog.

Resultierten bisherige Konflikte aus dem spannungsreichen Meister-Jünger-Verhältnis, wenn sich Einzelne den Werbungen des Meisters, die stets auch homoerotischen Charakter hatten, entzogen oder sich nicht mehr in der von ihm gewünschten Weise eingliedern ließen, so brach der Kreis nun als Ganzes auseinander: viele der jüdischen Mitglieder emigrierten, während andere eine abwartende Haltung einnahmen und wieder andere, zumeist der Jüngeren, das neue System begrüßten oder, wie so viele Intellektuelle, ihm gleichsam ihr eigenes Programm unterschoben, wobei sich der Kölner Germanist Ernst Bertram und der Tübinger Althistoriker Woldemar Graf Üxküll-Gyllenband besonders hervortaten.

Vor dem Hintergrund ihrer in der Öffentlichkeit als Verlautbarungen des Kreises angesehenen Reden "Deutscher Aufbruch" bzw. "Das revolutionäre Ethos bei Stefan George" ist Kantorowicz' bedeutsamer Vortrag über "Das Geheime Deutschland" zu verstehen, den er bei der Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit an der Universität Frankfurt im November 1933 als eine Art Antrittsvorlesung hielt, nachdem sich der jüdische Historiker im April aus Protest gegen das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vorübergehend hatte beurlauben lassen, obwohl für ihn als ehemaligen Frontsoldaten und Freikorpskämpfer ein Ausnahmestatus galt. Seine erst 1997 edierte kämpferische Rede ist nicht nur ein mutiges Manneswort vor (falschen) Königsthronen, das alles heutige Geschätz von Zivilcourage verstummen lassen sollte, sondern sie bietet auch die am weitesten ausformulierte Erklärung für das, was mit dem "geheimen Deutschland" gemeint ist.

Nach einem Überblick über die Begriffsgeschichte unterscheidet Kantorowicz das "geheime Deutschland" im engeren Sinne, die Georgesche Staatsesoterik, von einem in weiterer Bedeutung, "dessen Epiphanien uns allen wohlbekannt sind": "Das 'geheime Deutschland' ist gleich einem Jüngsten Gericht und Aufstand der Toten stets unmittelbar nahe, ja gegenwärtig (...) ist tödlich-faktisch und seiend. Es ist die geheime Gemeinschaft der Dichter und Weisen, der Helden und Heiligen, der Opfrer und Opfer, welche Deutschland hervorgebracht hat und die Deutschland sich dargebracht haben, die Gemeinschaft derer, die - obwohl bisweilen fremd erscheinend - dennoch allein das echte Antlitz der Deutschen erschufen." Es erstreckt sich also von einem Gipfel der Kulturnation zum anderen, ohne sich in die Täler hinabzulassen, war "niemals da" und ist doch ewig. "Aber wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, der weiß, daß fast zu allen Zeiten, seit es ein 'Deutsches' im emphatischen Sinne des Worts gab, (...) unabhängig von dem jeweiligen Zustand, der jeweiligen Verfassung des Reichs immer noch ein andres Deutschland gewesen ist, welchem jenseits des öffentlich sichtbaren Reiches Wesen und Leben beschieden war." Ein "anderes Deutschland", das dennoch nichts gemein hat mit der demokratischen Zivilgesellschaft oder "einem all-europäischen Einheits-Mischmasch", in dem vielmehr der "innerste wesenhafte Kern der Nation selbst geborgen" ist, deren Repräsentanten freilich immer über das nur Nationale und Volkstümliche hinausragen. Kantorowicz steht hier in einer theoretischen - ähnlich wie Stauffenberg in einer militärisch-politischen - Frontstellung gegen den Westen, den er jedoch im amerikanischen Exil bald etwas positiver bewertete, und gleicherweise gegen den Nationalsozialismus, dem er das Recht absprach, die deutsche Geschichte für seine Zwecke zu instrumentalisieren.

Redet man allgemein über das Geheime Deutschland, erscheint dessen Existenz, besonders vor dem Hintergrund des je konkreten, offensichtlich; zeigt man aber auf einzelne seiner gemutmaßten Repräsentanten und fängt gar an, darüber zu rechten, ob und warum dieser dazugehöre und jener nicht, dann entschwindet es und verblaßt zu einer Gelehrtenutopie. Da es am ehesten in Dichtung und Mythos beheimatet ist, wurde zwischen Kantorowicz und Alexander von Stauffenberg nach dem Krieg die Frage diskutiert, ob man den 20. Juli als Versuch seiner Gestaltwerdung poetisch darstellen könne, wozu letzterer als Zeitzeuge und Dichter prädestiniert sei, was aber in einer wirklich überzeugenden Form bis heute nicht geschehen ist.

Auch der Film "Valkyrie" mit Tom Cruise in der Hauptrolle wird dafür keinen Ersatz bieten - freilich nicht, weil der amerikanische Superstar ein Scientologe ist. Zu dieser kleinkarierten Debatte hat Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 8. Juli treffend festgestellt: "Der wahre Stauffenberg dürfte heute Stauffenberg nicht spielen aus ideologischen und gesinnungsethischen Gründen"; schließlich würde der George-Kreis heute - wie die Scientology-Sekte - nicht nur von den Sektenbeauftragten, sondern auch vom Verfassungsschutz beobachtet. Man wolle also einen ganz "reinen", von allem "Erdenrest" befreiten Stauffenberg, um ihn dann doch nur als "Text- und Rollenaufsagegerät" für die politische Phraseologie der Gegenwart zu gebrauchen. "Reinheit" von allen Schlacken und Fetzen des Menschlich-Allzumenschlichen ist für sich genommen also kein Wesenszug des Geheimen Deutschland.

Foto: Fassade zum Innenhof des Berliner Bendlerblocks, Erinnerungstafel in der 1980 gestalteten Gedenkstätte Deutscher Widerstand


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