© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/07 10. August 2007

Die Geheimnisse des Heinrich von Kleist
Adam Soboczynski schreibt über das Arcanum in Kleists Werken - und entdeckt den deutschen Dichter der europäischen Aristokratie
Michael Böhm

Woher rührt die viele Gewalt in den Texten Heinrich von Kleists? Tatsächlich kommt kaum einer von ihnen ohne entsprechende Exzesse aus: Achill wird in der "Penthesilea" von Hunden und Elefanten zerfleischt, Michael Kohlhaas  brennt in seiner Raserei halb Sachsen nieder, und die Marquise von O. wird von einem russischen Offizier vergewaltigt. Da sind die zuhauf an die Wand spritzenden Gehirne oder Dutzende von durchlöcherten Körpern fast eine Quantité négligeable. Aber sie allein sind schon zuviel für die klassische Dichtung, die stets das Zivilisierende, Allgemein-Menschliche betont.

Nicht nur aus diesem Grund bleibt der Dichterphilosoph aus dem preußischen Militäradel bis heute ein Ausnahmefall, an seinem Werk ein Fragezeichen - und beides ein Geheimnis. Auch Adam Soboczynski vermag es nicht vollständig zu lüften. Doch vermittelt er immerhin eine neue, überraschende und vor allem plausible Sicht auf den 1777 geborenen Schriftsteller: Bei ihm wird Heinrich von Kleist zum deutschen Dichter der europäischen Aristokratie, der aus deren typischen Verhaltensweisen ein poetologisches Konzept machte. Gerade die Blutrünstigkeit der Kleistschen Texte, so seine These, erweise sich "als extreme Steigerung einer negativen Anthropologie, die bereits die europäische Hofkultur entfaltet hatte". Zu dieser gehörten denn auch die Kunst zur souveränen Verstellung, zum galanten Spiel sowie unzählige arcana imperii - Herrschaftsgeheimnisse -, die der absolutistischen Macht die Aura des Besonderen gaben. Machiavelli hatte dies eingehend in "Il Principe" beschrieben, Kleist durch seine adelige Erziehung verinnerlicht.

Daher sind auch seine Figuren immer wieder undurchsichtige Gestalten: Eingeweihte, Schauspieler und Verführer, die unabhängig von ihrer sozialen Herkunft dem höfischen Verhaltenskodex folgen. So erweist sich Toni, die Protagonistin aus der "Verlobung in St. Domingo", als Inkarnation des idealen, wandlungsfähigen Höflings, der simuliert, lügt und täuscht. Nichts an ihr ist durchschaubar: "Ihre ins Gelbliche gehende Hautfarbe ordnet die weder den weißen Kolonialisten, noch den schwarzen Aufständischen zu, ihr Name ist weder eindeutig männlich noch weiblich, sie wechselt schließlich innerhalb der Erzählung die Fronten und damit ihre Verstellungsabsicht."

Auch bei der Marquise von O. aus Kleists gleichnamiger Erzählung ist es dem Leser bis zum Schluß nicht klar, ob sie integer ist, oder im Sinne der höfischen arcana imperii agiert. Weiß sie wirklich nicht, warum sie schwanger wurde oder gibt sie das nur vor? Ist sie unschuldig oder will sie nur ihre gesellschaftliche Reputation retten? Derartige Erzählmuster lassen sich in vielen Texten Kleists finden, sie machen sie bis heute lesenswert und spannend.

Doch während Günter Blöcker, der geniale Kleist-Interpret der 1960er Jahre, hierbei noch metaphysisch von der Rätselhaftigkeit Kleistscher Figuren in einer rätselhaften Welt fabulierte, erkennt Soboczynski darin klar eine "Verhaltenslehre der Kälte" in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs. Erfrischend setzt sich der Autor über bislang monumentale Gewißheiten der Kleist-Forschung hinweg, und erfrischend ist ebenso die relativ unkomplizierte Sprache des Buches. Obgleich es eine Dissertationsschrift ist, sind seine Schlußfolgerungen auch für den interessierten Laien nachvollziehbar: Kleist habe mit seiner Poetologie einen negativen Gegenentwurf zum Menschenbild des aufgeklärten Bürgertums formuliert. Der Dichter habe die idealistische Offenheit der bürgerlichen Briefkultur des 18. Jahrhundert bezweifelt, indem er ihr die Idee des Unergründlichen gegenüberstellte. Seine Geheimnisse seien jedoch keine arcana naturae oder arcana dei, und insofern sei Kleist auch kein "altständischer Junker".

Vielmehr gibt Soboczynski Ausblick auf ein Kleist-Bild, an dem in Zukunft noch intensiver gearbeitet werden sollte: Heinrich von Kleist als anderer Aufklärer, als moralischer Skeptiker, als Schriftsteller, der Hobbes näher steht als Locke, Rousseau oder Kant. Auch das macht sein Werk bis heute aktuell.

Adam Soboczynski: Versuch über Kleist. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2007, gebunden, 320 Seiten, 28,90 Euro

Bild: Heinrich von Kleist (1777-1811): Gegenentwurf zum Menschenbild des aufgeklärten Bürgertums


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