© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/07 17. August 2007

Jeder kehre vor seiner Tür
Spagat zwischen alter Weisheit und neuer Liberalität: China bereitet sich auf die Olympiade vor
Günter Zehm

Wie sollen wir intellektuell mit China umgehen? Die Frage wird immer drängender. Olympia 2008 reift heran, ein nicht nur sportliches Weltereignis, in das das Gastgeberland, eben China, gewaltige Energien investiert, um die Besucher zu beeindrucken und günstig zu stimmen. Eine unvergleichliche Offensive des Lächelns, der Liberalität und des Sicheinlassens auf geistige Auseinandersetzungen ist offiziell im Gange, und schon die schlichte Höflichkeit gebietet, freundlich darauf zu reagieren, von wissenschaftlichen und literarischen Interessen zu schweigen.

Andererseits verschafft die "neue Offenheit" ausländischen Korrespondenten sowie inneren oppositionellen Kräften Gelegenheit, sich mit schneidender Kritik an Mißständen und an dem offiziellen Politikstil insgesamt vernehmbar zu machen. Speziell im Internet finden ausgedehnte Debatten über die kulturelle und die  "menschenrechtliche" Lage im Lande statt und erregen internationale Aufmerksamkeit. Was man zu hören bekommt, ist oft tief deprimierend und scheint schwärzeste Vermutungen zu bestätigen.

Von riesigen Konzentrationslagern ist die Rede, in die Anhänger der verbotenen Falun-Gong-Bewegung, "Islamisten" und Angehörige nationaler Minderheiten ohne Urteil und für beliebig lange Zeit eingesperrt werden. Ein umfangreicher, staatlich betriebener Organhandel sei im Gange, der seinen "Nachschub" aus den Körpern frisch hingerichteter Verbrecher und "Krimineller" jeglicher Couleur beziehe. Der allgemein herrschende Wirtschaftsaufschwung werde erkauft durch Korruption und kriminelle Machenschaften von schier unvorstellbaren Ausmaßen.

Die Informationslage ist freilich außerordentlich kompliziert und unübersichtlich. Recherchen vor Ort sind für Ausländer so gut wie unmöglich, man ist abhängig von Presseberichten und Internetbeiträgen, denen die politische Absicht ziemlich ungeniert zwischen den Zeilen herausschaut. Sogenannte Nichtstaatliche Organisationen (NGOs) mischen an auffälliger Stelle mit, deren Herkunft und finanzielle Ausstattung zum Teil völlig undurchsichtig ist. Auch fehlt es nicht an den "typisch westlichen exhibitionistischen Provokationen" (so kürzlich die Turiner Zeitung La Stampa), die quer zur chinesischen Tradition des Anstands und des Gesichtwahrens stehen und die Szene eher verdunkeln denn erhellen.  

Die Chinesen selbst (auch und gerade hochintellektuelle wissenschaftliche Kräfte) parieren aufgeregte westliche Kritik an der Menschenrechtssituation in der Regel damit, daß sie in aller Ruhe die Gegenrechnung aufmachen. Konzentrationslager, in die man ohne Urteil verbracht wird, Folter und Folterexport, Hinrichtungen, intellektuelle Tabuzonen, Kriminalisierung und Verfolgung gewisser, die Historie betreffender Ansichten, Sektenbeaufsichtigung, Internetkontrollen, Wirtschaftskorruption eminenten Ausmaßes - all das gebe es doch auch und speziell im Westen, siehe Guantànamo, siehe die  Holocaust-Gesetze, siehe das Geifern gegen Scientology, siehe die schwarzen Kassen bei Siemens. Auch im Zeitalter der Globalisierung habe zu gelten: Jeder kehre vor seiner eigenen Tür.

Der Westen solle doch endlich seine brutalen Aggressionen unterlassen, die nun wirklich nichts mit Menschenrechten zu tun hätten. Und das beziehe sich nicht nur auf die Politik (Beispiel Irak-Krieg), sondern auch auf die Sphären der Kultur und der Weisheit. "Demokratisierung" und "Säkularisierung", die beiden Schlagwörter, die der Westen dauernd aggressiv ins Feld führe und mit der Frage der Menschenrechte verbinde, ermangelten doch (bisher wenigstens) gänzlich der geistigen Rechtfertigung, sie seien in chinesischen und überhaupt in asiatischen Augen lediglich Strategien teils politischer Überwältigung, teils schlichter Vermassung, die eher auf eine Abschaffung von Geist ausseien statt auf seine Verbreitung.

Daß solche Einwände ihre Wirkung auf westliche Debatten nicht verfehlen, ist offensichtlich. Wie schrieb Samuel Huntington, der legendäre und einflußreiche Autor des Buches "The Clash of Civilisations"?: "The west won the world not by the superiority of its ideas or values or religion, but rather by its superiority in applying organized violence. Westerners often forget this fact, non-Westerners never do." Zu deutsch: "Der Westen gewann die Welt nicht wegen der Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder wegen seiner Religion, sondern einzig durch seine Überlegenheit bei der Anwendung organisierter Gewalt. Westler vergessen das oft, Nicht-Westler vergessen es nie."

Nach wie vor bestehen zwischen den Völkern und Regionen tiefgreifende Unterschiede in der kollektiven Erfahrung, in Denkstilen und Geistesperspektiven, die sich in Jahrhunderten, manchmal in Jahrtausenden herausgebildet haben und die sich kaum je werden abschleifen lassen. Ihre Einebnung wäre auch gar nicht wünschenswert, denn die Welt lohnt sich letztlich nur wegen ihrer Vielfalt und Farbigkeit. Man sollte sich gegenseitig nicht auslöschen, sondern intensiv kennenlernen, respektieren und studieren, auch um eventuell gemeinsam neuartige Synthesen herzustellen.

Was dagegen heute in den westlichen Medien tagtäglich millionenfach als "Globalisierung" apostrophiert und hin und her gewendet wird, verdient die Kennzeichnung als geistiges Ereignis gar nicht. Es handelt sich um rein mechanische, strikt technisch-ökonomische Vorgänge, um rasante Informationsbeschleunigungen mittels moderner Elektronik, um elektronisch um den Globus rasende Finanzströme, um Dumpingpreis-Operationen und um wandernde, jobsuchende Arbeitnehmermassen. Eine Achterbahn ins Nichts.

Als "geistiger Überbau" wird dazu eine "neoliberale" Wirtschaftsideologie geliefert, die faktisch nichts mehr gemein hat mit den elaborierten Theorien der Adam Smith oder Friedrich August von Hayek, die nur noch dazu da ist, plattes Profitinteresse zu bedienen und medial zu rechtfertigen. Bemerkenswert nun aber: Die modernen, postkommunistischen Chinesen lassen sich offenbar nicht darauf ein. Kapitalismus oder Kommunismus: Solche Alternativen kümmern ihre Mandarinen gar nicht. Sie spielen das Spiel der technisch-ökonomischen Globalisierung erfolgreich mit, lassen es jedoch gar nicht an den Geist und die wirklich großen, wirklich interessanten Debatten heran. Das nimmt an sich für sie ein.

Die Berichte von KZs gegen Falun Gong und ethnische Minderheiten, von der hemmungslosen Hinrichterei und von der "Organindustrie" werden dadurch trotzdem nicht erträglicher. Wenn sie stimmen, besonders wenn sie in dem vielfach behaupteten Ausmaß stimmen, wirft das einen schweren, unerträglichen Schatten auf die chinesische Art zu leben und vergällt einem jedes Interesse an dortigen Weistümern und Denkstilen. Selbst die im Augenblick so hingebungsvoll vorbereiteten Olympischen Spiele würden dadurch gründlich vergiftet.

Foto: Chinesischer Soldat vor einem Gerichtsgebäude in Peking (2006): Ohne Urteil und für beliebig lange Zeit ins Konzentrationslager?


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen