© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/07 24. August 2007

Unter Piraten
Im Beutekunst-Streit mit Polen darf Deutschland sich nicht länger erpressen lassen
Thorsten Hinz

Die im Ausland lagernde Beutekunst aus Deutschland ist ein Ausweis seiner juristischen, politischen und moralischen Diskriminierung, die auch 62 Jahre nach Kriegsende anhält. Völkerrechtlich steht fest, daß das Kulturgut, wer immer es besitzt, an Deutschland zurückzugeben ist. Die Haager Landkriegsordnung ist eindeutig: Artikel 46 bestimmt, daß Privateigentum nicht eingezogen werden darf. In Artikel 56 heißt es präzisierend: "Das Eigentum der Gemeinden und der dem Gottesdienst, der Wohltätigkeit, dem Unterricht, der Kunst und der Wissenschaft gewidmeten Anstalten, auch wenn diese dem Staat gehören, ist als Privateigentum zu behandeln. Jede Beschlagnahmung, jede absichtliche Zerstörung oder Beschädigung von derartigen Anlagen, von geschichtlichen Denkmälern oder von Werken der Kunst und Wissenschaft ist untersagt und soll geahndet werden."

Aktuell geht es um die "Berlinka", um ein riesiges Konvolut aus der Staatsbibliothek zu Berlin, das unter anderem Musikmanuskripte von Bach, Beethoven, Mozart, die Dissertation von Schiller, Goethe-Manuskripte und das "Lied der Deutschen" von Hoffmann von Fallersleben umfaßt. Es wurde zum Schutz vor dem Bombenkrieg aus Berlin nach Breslau ausgelagert, wo die Polen es 1945 vorfanden und nach Krakau brachten. Die polnische Führung reagiert empört auf die Forderung nach Rückgabe. Der jetzige Augenhaltsort sei "ein Zeichen der Geschichte"- warum nicht gleich ein Fingerzeig Gottes? -, auch handele es sich um "europäisches Kulturgut", das deswegen ruhig in Polen bleiben könne. Im übrigen sei es als Kompensation für eigene Verluste anzusehen. Dem steht aber, wie gesagt, die Haager Landkriegsordnung entgegen.

Polens Außenministerin Anna Fotyga erklärte, man habe nur das übernommen, was einem das Potsdamer Abkommen beschert habe: die deutschen Ostgebiete samt Inventar. Sie legitimiert eine aktuelle Frechheit mit einer historischen Ungeheuerlichkeit - der Entrechtung, Vertreibung und Enteignung von Abermillionen Menschen. Der Historiker Golo Mann zitierte, um das Potsdamer Abkommen zu charakterisieren, den britischen Economist, der 1945 schrieb, man habe den Krieg gegen Hitler mit einem Frieden im Stile Hitlers beendet.

Einschlägige Geschichtsexperten, deutsche und polnische, würden entgegnen, die Deutschen hätten nur den Sturm geerntet, den sie gesät hätten. Der historische Kontext indes ist unendlich viel komplizierter. Um ihn zu umreißen, muß man mindestens bis zur "Quarantäne-Rede" zurückgehen, die US-Präsident Roosevelt am 5. Oktober 1937 in Chicago hielt. Er unterschied zwischen den "friedliebenden Völkern", die 90 Prozent der Menschheit ausmachten, und den "verbleibenden zehn Prozent", die eine "Seuche der Gesetzlosigkeit" verbreiteten. Obwohl keine Namen genannt wurden, zielte die Quarantäne-Drohung klar auf Deutschland, Japan und Italien.

Carl Schmitt, der wußte, daß Roosevelts Argumentation einflußreichen angelsächsischen Völkerrechtlern folgte, analysierte nicht ohne Sorge, daß die USA bereits im Ersten Weltkrieg Deutschland zum "Piraten" und "Feind der Menschheit" erklärt hatten. In seiner Abhandlung "Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff" heißt es: "Die rechtslogische Folge ist, daß der Krieg aufhört, Krieg zu sein; denn gegen Piraten führt man nicht Krieg, sie sind das Objekt antikrimineller und seepolizeilicher Aktionen und Zwangsmaßnahmen." Der Staaten- wurde zum Bürgerkrieg umdefiniert, dessen Folgen die Angehörigen der Feindstaaten sich nur durch Widerstand gegen innerstaatliche Anordnungen entziehen konnten. Andernfalls zählten sie gleichfalls zu den Piraten, und man durfte die Hand auf ihr Privateigentum, auf ihre Museen und Archive legen. Diese angelsächsische Auffassung war mit der Unterscheidung zwischen "gerechten" und "ungerechten" Kriegen, die Lenin und Stalin vornahmen, bestens kompatibel. Damit war frühzeitig festgelegt, daß ein künftiger Krieg als internationaler Bürgerkrieg und mit beispielloser Grausamkeit geführt werden würde.

Das Potsdamer Abkommen und die Feindstaatenklausel der UN-Charta (Artikel 53), die Deutschland bis heute stigmatisiert, war ein Ergebnis der antideutschen Weltbürgerkriegs-Gesinnung. Glücklicherweise ließ die Neue Weltordnung nach Roosevelt und Stalin sich nicht vollständig durchsetzen, die Haager Landkriegsordnung blieb in Kraft. Deutschland hat zwar die Beschlüsse von Potsdam akzeptiert, doch im aktuellen Beutekunst-Streit greifen sie nicht. Da es sich um kein ostdeutsches, sondern um kriegsbedingt verlagertes Berliner Kulturgut handelt, das unter dem Schutz der Haager Landkriegsordnung steht, kann Deutschland auf seiner Heimführung bestehen.

Die Deutschen brechen unter der Härte und Schwere solcher Zusammenhänge und Zumutungen ein und flüchten sich in einen auf die "deutsche Schuld" fixierten Moralismus in der Hoffnung, daß er die anderen freundlich stimmt. In Wahrheit wird er als Hebel benutzt, um von Deutschland immer neue Leistungen zu erpressen. Ein Beispiel ist Schröders Kulturstaatsminister Michael Naumann (SPD), der in den Verhandlungen über behauptete NS-Raubkunst einer Umkehrung der Beweislast und damit der Verlängerung der juristischen und völkerrechtlichen Diskriminierung Deutschlands im Vollgefühl der eigenen Moralität zustimmte. Das Ergebnis ist ein Desaster.

Auch in den Beziehungen zu Polen hat die deutsche Politik ihre Trümpfe der Gegenseite in die Hand gedrückt. Desto brutaler ist unter den regierenden Kaczyński-Brüdern die national- und machtstaatliche Logik in ihr Recht eingetreten und erweist sich Polen als schwer berechenbar. Außenministerin Fotyga verkündete - bezeichnenderweise in der US-Zeitung Herald Tribune -, Deutschland sei der "historische Feind" ihres Landes. Überholt geglaubte außenpolitische Konstellationen kehren zurück. Die deutschen Versöhnungsrhetoriker werden auf ihre Inhaltsleere gestoßen und begreifen vielleicht, daß Polen auch früher und zwar unabhängig vom Regierungssystem in Deutschland kein ganz pflegeleichter Nachbar war.

Doch es gibt auch berechtigte Sorgen seitens der polnischen Führung. Eine schlägt sich in der Frage nieder, warum die Deutschen nicht mit gleicher Vehemenz die Beutekunst aus Rußland und seinen westlichen Partnern zurückfordern. Die Wahrheit lautet natürlich, weil Polen am schwächsten von allen erscheint. Zu berücksichtigen ist auch das Trauma, das aus der mutwilligen Zerstörung polnischer Museen, Bibliotheken und Archive durch Deutsche herrührt.

Andererseits kann Deutschland Verständnis dafür erwarten, daß die Übertragung seiner Ostgebiete mit ihren mobilen und immobilen Kulturgütern bereits eine Kompensation darstellt. Es gibt keinen Grund, weiter als Objekt fremder Selbstgerechtigkeit durch die Welt zu schleichen.

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1875) schrieb 1841 auf Helgoland das "Lied der Deutschen", die spätere deutsche Nationalhymne: Die Original-Handschrift gehört zu jenen geraubten Kulturgütern, deren Rückgabe Polen bis heute hartnäckig verweigert


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