© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/07 31. August 2007

"So etwas spielen wir nicht!"
Ein norwegischer Patriot und Weltbürger der Musik: Edvard Grieg
Wiebke Dethlefs

Vor hundert Jahren, am 4. September 1907, starb an einer seit der Jugendzeit verschleppten Tuberkulose Edvard Grieg im Krankenhaus seiner Geburtsstadt Bergen. Er ist beileibe nicht der einzige norwegische Komponist, doch gelangte durch ihn die Kunstmusik des Landes in die norwegische Weltliteratur. Und er ist einer der wenigen Komponisten der romantischen Epoche, die bereits zu ihren Lebzeiten Weltruf genossen.

Trotzdem ist Grieg, der am Leipziger Konservatorium studiert hatte, als musikalisches Symbol des Landes außerhalb Norwegens mit nur einem winzigen Bruchteil seines Gesamtwerkes bekannt. Die Schauspielmusik (oder besser nur einige Teile daraus) zu "Peer Gynt" und das fast schon bis zum Überdruß heruntergedonnerte Klavierkonzert sowie vielleicht noch die Streichersuite "Aus Holbergs Zeit" sind annähernd seine einzigen Werke, die dem gewöhnlichen Konzertbesucher geläufig sind.

Dafür genießen sie einen schier ungeheuren Bekanntheitsgrad bzw. dienen in der Werbung als oft benutzte musikalische Kulisse. Der nordische Geist des Bommerlunder wurde mit "In der Halle des Bergkönigs" aus "Peer Gynt" klanglich untermalt, das gleiche Thema war die musikalische Visitenkarte Peter Lorres in Fritz Langs Film "M", ein ungeheuer einprägsames Motiv, das letztlich zur Erkennung des Mörders führte. Gern wird das Stück auch von Hardrock- und Heavy-Metal-Gruppen adaptiert. Und wieviel Frühlingslandschaften der TV-Reklame ist nicht die "Morgenstimmung" aus dem gleichen Werk unterlegt.

Dieser ungeheuren Popularität steht die Tatsache gegenüber, daß Grieg oft als bloßer Kleinmeister abgetan wurde. Noch vor wenigen Jahrzehnten soll der damalige Intendant der Berliner Philharmoniker, Peter Girth, geäußert haben: "Grieg? So etwas spielen wir nicht!"

Freilich, Grieg pflegte in seinen Schöpfungen eher die kleine Form. Gut zwei Drittel seines Gesamtwerkes stellen Klavierstücke und Lieder dar. An Kammermusik gibt es einige Solosonaten für Geige und Cello sowie ein mitreißendes Streichquartett. Es gibt die zwei Schauspielmusiken zu Ibsens "Peer Gynt" und zu Björnstjernes "Sigurd Jorsalfar", es gibt das Fragment einer Oper, einige Chöre und eine Symphonie aus der Jugendzeit, die entgegen dem ausdrücklichen Wunsch des Komponisten dann doch aufgeführt wurde, aber immerhin erst 63 Jahre nach seinem Tode.

Im Zentrum stehen die Klavierwerke. Einer einzelnen Sonate steht eine Unzahl lyrischer Charakterstücke und ebensoviele Tänze gegenüber. Und gerade darin zeigt sich die singuläre Erscheinung des Komponisten. Wie kein anderer norwegischer Komponist greift er auf die Volksmusik der Heimat zurück. In deren schwermütigen Liedern, in deren eigenwilligen Tanzrhythmen und insbesondere in deren aparten Harmonien, die nicht vor den schärfsten Dissonanzen haltmachen, findet er die Basis für seine im kleinen so großartigen, unverwechselbar Schöpfungen.

Bisweilen treibt er die freie Stimmführung so weit voran, daß er, nur auf der Grundlage der Volksmelodien fußend, polytonal wird, und einzig in seinem Schaffen gelingt es ihm, 1891 in dem Klavierstück "Glockengeläute", op. 54 Nr. 6, die Tür weit zum Impressionismus eines Debussy aufzustoßen, der als Komponist zu diesem Zeitpunkt noch der französischen Spätromantik verhaftet war.

Der Komponist bekannte einmal: "Künstler wie Bach und Beethoven haben auf der Höhe ihrer Kunst gewaltige Tempel errichtet, ich aber wollte Häuser für die Menschen bauen, in denen sie glücklich sein können." Diese seine Grenzen erkannt zu haben, war Edvard Griegs Stärke. Und wir sollten nicht vergessen: Es ist die Liebe zu seinem norwegischen Vaterland, die sich in seiner Musik so überschwenglich mitteilt. Die bewußte Beschränkung auf die kleine Form und die bewußte Verwendung der heimatlichen Folklore gibt jene eigentümliche Mischung ab, die uns in Edvard Griegs Kunst so anzieht.

Mag man es vielleicht als Unglück ansehen, daß die hohe Popularität einiger weniger Werke den Blick auf sein anderes Schaffen verstellt; es bleibt dennoch unbestritten, daß Grieg mit diesen Stücken vielen Menschen den Zugang zur Klassik erleichterte. Und auch in diesem Zusammenhang ist bezeichnend das künstlerische Credo des Meisters, wie er es in einem Brief an den russischen Pianisten Alexander Siloti 1904 anläßlich des russisch-japanischen Kriegs formulierte: "...Wir Künstler reden von Kultur und Zivilisation, doch wie wenig haben wir bewirken können. Requiems und Schlachtenlieder mögen schön sein, doch ist die Aufgabe der Kunst eine weitaus höhere. Sie sollte den Völkern so verständlich werden, daß sie als Friedensbote wirkte, daß ein Krieg als unmöglich empfunden werden würde. Dann erst wären wir Menschen geworden. Doch bis dahin tappen wir als Barbaren herum."

Schöner und wahrhaftiger haben nur wenige Künstler ihr Ethos ausgedrückt.

 

Edvard Grieg (1843-1907): Der Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns und einer musikalisch und dichterisch begabten Mutter studierte am Leipziger Konservatorium und lebte später in Kopenhagen, wo Hans Christian Andersen zu seinen Freunden zählte. 1866 kehrte er in sein Heimatland zurück und widmete sich in Christiana, dem heutigen Oslo, als Komponist, Musiklehrer und Dirigent der Pflege einer spezifisch norwegischen Musikkultur. Bei Italien-Aufenthalten lernte der reiselustige Patriot Henrik Ibsen und Franz Liszt kennen, mit Peter Tschaikowsky verband ihn und seine Frau Nina eine enge Freundschaft.


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