© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/07 31. August 2007

Die geplanten Pogrome
Posener Akten belegen, daß die Übergriffe gegen die deutsche Minderheit nach dem 1. September 1939 politisch kalkuliert waren
Markus Krämer

Pflicht jedes Kombattanten ist es, seinen nächsten Familienmitgliedern, Freunden, Bekannten und Kollegen einzuprägen, daß Polen eine Großmacht ist, daß sie die Aufgabe hat, eine historische Mission unter den slawischen Völkern zu erfüllen, sowie daß Polen niemand seiner Nachbarn fürchtet und daß es in jedem Augenblick bereit ist zum Abweisen eines Angriffes, der es abgesehen hätte auf die Ganzheit der Grenze, die durch unsere Soldaten der Republik Polen geschmiedet worden ist. Jeder Kombattant muß wissen, daß im Falle eines Krieges in Verteidigung der Grenzen unseres Vaterlandes nicht nur unser geliebtes Heer, sondern das ganze polnische Volk, Greise, Frauen, Kinder überhaupt alle, die dem Vaterlande, wenn auch mit der geringsten Tat dienen können, kämpfen werden." Diese geheime Anordnung des Sejm-Abgeordneten und Posener Wojewoden Józef Głowacki, der gleichzeitig Vorsitzender der Föderation der polnischen Verbände der Vaterlandsverteidiger war, galt in der aufgeheizten Phase der sich anbahnenden Krieges gegen das Deutsche Reich im März 1939 den teilweise paramilitärischen Organisationen (Verband polnischer Legionäre, Verband der großpolnischen Aufständischen etc.) in den Westgebieten Polens, denen allein in der Stadt Posen 12.500 Mitglieder angehörten.

Als die oben angeführte Befehlsinstruktion zwei Monate später öffentlich bekannt wurde, hatte Polen die Teilmobilmachung (26. März) bereits durchgeführt und die Truppen in Oberschlesien und im "Korridor" eingesetzt. Die Anordnung, die sich bis dahin hauptsächlich gegen einen potentiellen Kriegsgegner richtete, wurde nun erweitert um die "Instruktion K 03031", die die Verhaftung der bereits listenmäßig erfaßten Deutschen, ihre Verschleppung und Ermordung anordnet: "Pflicht eines jeden Kombattanten ist es, sorgfältig und aufmerksam die nationalen Minderheiten, die auf polnischem Gebiet wohnen, zu beobachten und jeden polnischen Staatsbürger, der einer Verschwörung gegen die Gesamtheit der Republik Polen verdächtig ist, sofort der Polizei oder den Militärbehörden zu übergeben."

Damit wurde gleichzeitig eine flächenmäßige Drangsalierung und Unterdrückung der deutschen Minderheit - als Volksdeutsche bezeichnet - eingeleitet. Begleitend verschärfte sich eine massive Propaganda der national-polnisch geprägten katholischen Kirche, der nationalistischen Presse und paramilitärischer Kampfverbände gegen die Volksdeutschen, die von staatlichen Stellen durch Repressionsmaßnahmen gegen deutsche Institutionen und Vereine und Enteignungen deutschen Besitzes keinerlei mäßigenden Einfluß erfuhr.

Das feindselige Klima und die offizielle Entrechtung bewirkte in den folgenden Monaten eine Panik und Massenflucht vieler Deutscher über die "grüne Grenze" ins Deutsche Reich - allein bis zum 3. August 1939 flüchteten 77.000 Menschen. Ab Mitte August steigerte sich die Unterdrückung der Volksdeutschen zum offenen Terror der Aufständischenverbände und des Westverbandes in Verbindung mit dem Militär und den Behörden. Letztere organisierten Massenverschleppungen von den Grenzgebieten in den polnischen Osten. In den oberschlesischen Städten Bielitz und Kattowitz forderten Bombenanschläge auf deutsche Häuser mehrere Todesopfer. Deutsche Gehöfte in Posen, Westpreußen und Oberschlesien wurden angezündet und die Bewohner ermordet. In den oberschlesischen Gruben und den Industriebetrieben von Teschen, Bielitz und Łódź wurden Deutsche wegen ihrer Volkszugehörigkeit entlassen.

Am 1. September griff die deutsche Wehrmacht ohne Kriegserklärung Polen an. Der heute gern gebrauchte Terminus "Überfall" ist wegen der politischen Zuspitzung zwischen Deutschland und Polen und der drei Tage zuvor (29. August) erfolgten Generalmobilmachung der polnischen Armee sowohl als militärischer Terminus wie auch als historische Einordnung dennoch unpassend und tendenziös. Die Übergriffe gegen die deutsche Minderheit erfolgten nun in einer offenen und mörderischen Art und Weise. Allein in und um die Stadt Bromberg wurden am 3. September - bei einer deutschen Gesamtbevölkerung des Kreises Anfang 1939 von etwa 23.000 Menschen - 981 Deutsche getötet. Sowohl die deutsche Propaganda, die danach die mörderischen Übergriffe mit dem Begriff "Bromberger Blutsonntag" in der deutschen Öffentlichkeit auf diese Region projizierte, als auch polnische Historiker, die nach 1945 die Übergriffe bis in die neunziger Jahre mit "Schüssen auf die durch Bromberg zurückziehenden polnischen Truppen" begründeten, blendeten aus, daß es im gesamten bis 1919 zum Deutschen Reich zugehörigen Gebiet - Provinz Posen, Westpreußen und Oberschlesien - und darüber hinaus zu Mordtaten gekommen ist, die federführend nicht von den Hauptkräften der polnischen Armee, sondern meist von den in polnische Ersatzbataillone überführten paramilitärischen Einheiten geschahen. Ausgerechnet diese waren Empfänger der Instruktionen des Posener Wojewoden im Frühjahr 1939.

Folgt man den Untersuchungen, erstreckt sich der Raum der Pogrome gegen die Deutschen auf weite Teil der früheren Provinz Posen. Besonders hart traf es die deutsche Minderheit im Gebiet zwischen Bromberg, Thorn und Hohensalza und der Wojewodschaft Posen - so in Obornik an der Warthe und Kosten südwestlich und Wreschen östlich von Posen. Allerdings gab es bezeichnenderweise Ausnahmen, so in den grenznahen Kreisen Samter, Birnbaum und Rawitsch. Dort ignorierten die polnischen Behörden weitestgehend antideutsche Weisungen, zudem verhinderte das schnelle Vorstoßen der Wehrmacht auch Übergriffe von Angehörigen der polnischen Armee, die beispielsweise bei ihrem Rückzug in Schubin im Netzedistrikt südwestlich von Bromberg Blutbäder in mehreren Dörfern anrichtete. Auch die Einwohner des ebenfalls grenznahen Lissa hatten weniger Glück. Dort spielten sich schreckliche Szenen in den Straßen ab, wo ein aufgebrachter Mob Deutsche in den Straßen lynchte. Viele aus ihren Heimatorten verschleppte Volksdeutsche wurden Opfer von Massakern in Mittelpolen, wo sie versprengte und zurückdrängende Einheiten der polnischen Armee zuerst ausraubten und dann ermordeten.

Spätere Ermittlungen - auch gestützt auf Augenzeugenberichte der in diesen Gebieten lebenden Polen - ermöglichten es den deutschen Truppen, die vielen nur oberflächlich verscharrten Toten zu bergen. Neben den auf Reservisten gestützte Verbänden - besonders auffällig war das praktisch eine Blutspur ziehende 2. Bataillon der Obrona-Narodowa-Posen, dessen Kommandeur Hauptmann Cichon sowie fünf Offiziere und zehn Soldaten am 24. Januar 1941 durch ein Sondergericht in Posen zum Tode verurteilt wurden - waren aber auch reguläre, aus aktiven Soldaten bestehende Verbände der polnischen Armee an diesen Kriegsverbrechen beteiligt, wie die Untersuchungen ergaben.

Der aus dem damals russischen Mittelpolen (Lindhof, Kreis Leipa) stammende Historiker August Müller (1895-1989) ermittelte in einer groß angelegten, aber niemals vollendeten Dokumentation der Historisch-Landeskundlichen Kommission für Posen und das Deutschtum in Polen, deren Erfassung er von dem renommierten Historiker Gotthold Rhode übernahm, etwa 5.000 ermordete Volksdeutsche in Polen (JF 39/06).

Obwohl diese Tatsachen mittlerweile selbst bei polnischen Historikern kaum mehr geleugnet werden, kommt die am 1. September (bis zum 13. Januar 2008) im Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteigelände präsentierte Ausstellung "'Größte Härte ...'. Verbrechen der Wehrmacht in Polen im September/Oktober 1939" ganz ohne Hinweis auf diese völkerrechtswidrigen Exzesse aus, die - zum Vergleich - die Opferzahl des die Welt verändernden 11. September 2001 bei weitem überstiegen. Ausstellungsleiter ist Jochen Böhler, der mit der Arbeit "Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen" am 15. Dezember 2005 bei Jost Dülfer in Köln promovierte (JF 10/06). In seinem weitverbreiteten Werk, mittlerweile auch kostenlos bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich, transportiert Böhler mehrere Grundthesen: Die Wehrmacht habe in Polen 1939 einen Vernichtungskrieg geführt, während die polnische Armee keine Kriegsverbrechen verübt habe, sondern hauptsächlich die Rolle als Opfer deutscher Kriegsverbrechen habe erfahren müssen.

Dokumente werden dazu bewußt einseitig interpretiert und selektiert, Belege, die Verbrechen der polnischen Armee und paramilitärischer Einheiten eindeutig nachweisen, unterschlagen, diktatorische Maßnahmen der polnischen Regierung verschwiegen oder beschönigt, ebenso der Massenmord an den Volksdeutschen. In einer Fußnote des Buches werden die nachweislich 981 Opfer des "Bromberger Blutsonntags" in der Region Bromberg von Böhler auf unter einhundert heruntergerechnet (siehe auch die Besprechung auf Seite 15). Die vom Deutschen Historischen Institut Warschau (DHI), dessen Angestellter Böhler ist, und dem Polnischen Institut des Nationalen Gedenkens konzipierte Ausstellung (Eintritt ist frei) transportiert in Kurzform die wesentlichen Aspekte seines Werkes, welches im Grunde genommen eine Zusammenfassung eines nationalchauvinistischen polnischen Standpunktes in deutscher Sprache ist.

Die in ihrer Tragweite keine Verhältnismäßigkeit einhaltenden "Sühnemaßnahmen" von Milizen wie dem Volksdeutschen Selbstschutz unter seinem Kommandanten Ludolf von Alvensleben, die nach dem siegreichen Vorrücken der Wehrmacht Jagd auf Mörder an Volksdeutschen machten und dabei auch viele Unschuldige vertrieben und ermordeten, werden ohne Differenzierung der Wehrmacht zugeschrieben.

Um die These des vorsätzlichen Vernichtungskrieges nicht zu gefährden, wird bei den auch von der Wehrmachtsgerichtsbarkeit vorgenommenen Verfolgungen der polnischen Mordbanden ihr strafrechtlicher Impetus - nämlich die Pogrome des September 1939 mit ihren tausendfachen Opfern - bequemerweise ausgeblendet. Selbst bekannte Quellen, die zum Beispiel die Maßnahmen der Wehrmacht gegenüber den Kriegsverbrechen des Selbstschutzes belegen könnten, werden unterschlagen. Dabei hat zum Beispiel von Alvensleben sich in einem persönlichen Schreiben an den Reichsführer der SS über die zu "zaghaften" Ermittlungs- und Untersuchungsbemühungen beschwert: "Die Arbeit macht, Reichsführer, wie Sie sich ja denken können, eine riesige Freude. (...) Leider wird nicht so durchgegriffen, wie es nötig wäre, und zwar liegt das an den sogenannten Kriegsgerichten und an den Ortskommandanten der Wehrmacht, die Reserveoffiziere und aufgrund ihrer bürgerlichen Berufe zu schwach sind."

Foto: Bergung eines ermordeten Volksdeutschen aus der Brahe bei Bromberg: Auf unter einhundert Opfer heruntergerechnet


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