© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/07 14. September 2007

Krieg im Frieden
Der wirkliche und der imaginäre Kampf der Roten Armee Fraktion gegen das "Schweinesystem" und für die eigene Existenzberechtigung
Bernd Rabehl

Gegenwärtig überschlagen sich die Medien in ihren Berichten über den dreißigsten Jahrestag der Niederlage der Roten Armee Fraktion im Herbst 1977. In manchem Kommentar wird einmal mehr ein Generalverdikt über "68", über eine "Generation" ausgesprochen, die scheinbar alle Übel der Republik zu verantworten haben soll. Versteckter zwar, aber nicht unauffindbar wurde gelegentlich auch wieder eine "klammheimliche Freude" an den Kämpfen der RAF bekundet, denn immerhin hatte diese Partisaneneinheit den "Herrschenden" Angst und Schrecken eingejagt. Die schiere Masse an Artikeln und Dossiers indes verrät eine unartikulierte Faszination über diese stilsicheren Polit-Hasardeure, die einen ganzen Polizeiapparat in Atem gehalten hatten wie in einem amerikanischen Polit-Thriller. Diese Außenseiter, die mitten im Frieden, in einer Epoche von Wohlstand und Umbruch der Republik den Krieg erklärt hatten, hielten sich für die Propheten und Erfüller einer Revolution der Kolonialvölker und Unterdrückten in Vietnam, Lateinamerika und Afrika und dachten den Krieg stets in der Dimension eines metropolitanen Weltkrieges.

Sie organisierten eine Stadtguerilla nach dem Vorbild Mariguelhas, die die Unübersichtlichkeit, das tendenzielle Chaos und das Tempo der Großstädte erfolgreich als Unterschlupf und Operationsgebiet nutzte, ohne daß die Polizei ihrer vorläufig habhaft werden konnte. Die Beweglichkeit und die Offensiven garantierten, daß sie das Gesetz des Handelns bestimmten und die Polizei zum bloßen Reagieren zwangen. Trotzdem geriet die erste Generation der RAF nach fast vier Jahren illegalen Kampfes in das Raster der Polizeifahndung. Die Nachlässigkeit und der Übermut der Terroristen, alles wagen zu können, hatten den Erfolg der Fahnder zugelassen. Die Verhaftung der ersten brachte die zweite Generation der RAF hervor, und eine zweite Runde des Krieges wurde eingeläutet. Doch die Weltdimension des Befreiungskampfs schrumpfte auf einen Kampf zur Befreiung der inhaftierten Guerilleros zusammen.

War in dieser Einengung die Niederlage der Partisanen angelegt? Bestand staatlicherseits die wichtige Lehre dieses Krieges darin, daß eine Großstadt polizeilich nicht kontrollierbar war und in Zukunft sich ähnliche Konflikte aufschaukeln konnten? Die RAF jedenfalls operierte weitgehend isoliert; bis auf einige "Solidaritätskomitees" an einzelnen Universitäten fehlte ihr ein weitverzweigtes Unterstützermilieu.

Schon die Orientierung an einer für die Dritte Welt konzipierten Kampf­ideologie bezeugte den Realitätsverlust der RAF. Das Leben in der Illegalität hat diesen Realitätsverlust fortwährend intensiviert. Am Ende stand der inszenierte Märtyrertod, den die schon vor und in der Illegalität gepflegte Läuterungs- und Erlösungsrhetorik wohl sehr früh erahnen ließ.

Die unterschiedlichen Gründer einer Roten Armee in West-Berlin im Jahre 1970 entstammten den diversen Traditionen und Ansätzen des Linksintellektualismus. Allein der Name sollte Angst und Schrecken verbreiten und wurde als Provokation gegen die deutschen "Spießer" und die zerfallende Radikalopposition gewählt. Die sowjetische Rote Armee hatte 25 Jahre vorher die Reichshauptstadt in erbitterten Straßenkämpfen erobert und die britische Royal Air Force die deutschen Städte in Schutt und Asche bombardiert. Der Name sollte als Fanal gegen die erbärmlichen Spaltungen und Parteigründungen der deutschen Maoisten wirken. Ein Teil der Kämpfer kam aus der neuen Linken wie Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Holger Meins und Jan Carl Raspe. Ulrike Meinhof und Horst Mahler hatten ihre Spuren in der traditionellen Linken, die stets eine Nähe zur DDR aufwies.

Baader bewegte sich im Umfeld von Kommune und SDS. Er liebäugelte mit der These, daß nicht länger "Klassen" das historische Geschehen bestimmten. Ihm gefiel die Überzeugung, daß eine Konsum- und Wohlstandsgesellschaft die unterschiedlichen Schichten zu einer unpolitischen Masse der Käufer und Gaffer nivellierte, die lediglich durch Sonderangebote und Reklame zusammengefügt wurden. Politik folgte nach dieser Sicht der Aufbereitung der Medien und lebte von der Manipulation durch kleine Gruppen und Cliquen in Wirtschaft und Staat. Der Kapitalismus war über sich selbst hinausgewachsen und definierte die Gesellschaft zu einer sozialen Einheit von Konsumenten und Klienten. Höchstens Außenseiter, so die Auffassung, konnten den Machtapparat von Lüge und struktureller Gewalt durch Provokationen sichtbar machen. Als Indizien für diesen Zusammenhang galt, daß ein "Polizeigreifer" den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 erschossen hatte und die westliche Teilstadt als abhängig von der inszenierten "Wirklichkeit" des Springer-Konzerns wahrgenommen wurde.

Baader kam wie viele Revolteure aus den zerstörten Familien der Nachkriegszeit, die alles verdrängt und überwunden hatten, den Krieg, die Bombennächte, die Angst, die Vertreibung und den Tod der Männer und Brüder. Als Einzelkind und Sohn eines Offiziers wuchs er hinein in die Sonderrolle eines jungen Mannes, der sich einbildete, alles erreichen zu können. Die Studentenrevolte war für ihn Gelegenheit, seinen Ambitionen zu folgen und ein anderes, zwangloses Leben zu führen. Er übersetzte die Ideen der Kommune auf seine Art, um aus den sozialen Anforderungen auszuscheren. Er gefiel sich in der Rolle des Rebellen, der die internationale Revolution nach Zentraleuropa tragen würde.

Der Brandanschlag in Frankfurt auf einen Tempel von Kauf- und Medienrausch war gegen die Anpassung der Studenten aus DKP und SDS gerichtet. Die DKP sollte durch die sozial-liberale Koalition legalisiert werden, um einen Teil der rebellischen Generationen aufzufangen und um eine neue Ostpolitik einzuleiten. Der SDS verwarf zwar im März 1968 auf einer Sonderkonferenz die parlamentarische Taktik, ließ jedoch erkennen, den Angeboten der Koalition an Universitäten und Bildungseinrichtungen zu folgen. Der Brandanschlag sollte die Richtung weisen, jenseits der Kooptationen den illegalen Kampf aufzunehmen. So jedenfalls kokettierte Baader im Club Voltaire vor den Linksradikalen aus dem studentischen Umkreis. Tatsächlich bildete die RAF die letzte Konsequenz des militanten Aufbruchs von "68".

Ulrike Meinhof und Horst Mahler stießen eher zufällig zu diesem Nukleus von Widerstand und Illegalität um Baader und Ensslin. Mahler war der Rechtsanwalt der inhaftierten Brandstifter. Meinhof setzte sich verzweifelt ab aus der Geborgenheit von Familie und KPD. Sie folgte einer christlichen Empörung gegen den großbürgerlichen Lebensstil und gegen den Opportunismus der kommunistischen Genossen. Meinhof und Mahler bezogen sich weiterhin auf den "Klassenkampf" und auf den "Sieg" des Sozialismus. Ihre Analyse der Wirklichkeit blieb deshalb Bestandteil der Rhetorik des Kalten Krieges. In den ersten Aufrufen der RAF schimmerte ihre Sprache durch. Sie forderten innerhalb der anderen Linksgruppen den Führungsanspruch und pochten auf einen Stadtkrieg, der das politische System zum Einsturz bringen sollte. Die internationale Partisanenfront bildete den Dreh- und Angelpunkt eines subjektiven Faktors, der auf die unterdrückten Klassen einwirken würde.

Nach den Festnahmen der ersten Generation der RAF rückten Organisationsfragen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Es war gelungen, die illegale "Verschwörung" zu ergänzen durch "Solidaritätskomitees", trotzdem fehlte der legale Arm einer Massenbewegung. Über die Hungerstreiks der Inhaftierten und über die Propaganda der "Isolationsfolter" gewannen die Komitees eine wichtige Unterstützerfunktion. Eine zweite und dritte Generation der Kämpfer wurde in diesem Umfeld erzogen. Es waren primär junge Frauen oder Aussteiger aus den alten Mittelschichten, die sich diesen Initiativen anschlossen. Sie unterlagen zunehmend dem moralischen Druck, die erste Generation aus der Haft freizupressen.

Durch diese Logik geriet die RAF selbst als Kollektiv, "Körper" und Schwur ins Zentrum von Selbstbetrachtung und innerer Aufrüstung. Ein Fanatismus setzte sich fort, denn der Feind wurde nun ausschließlich im Staats- und Sicherheitsapparat ausgemacht und zum allmächtigen "Schweinesystem" verteufelt. Eigene Zweifel oder Kritik an den Zielen des Kampfes durften nicht aufkommen. Das Mißtrauen gegen potentielle Verräter erzeugte eine Hysterisierung der Gruppe, die soweit ging, im "inneren Schwein" die Hauptgefahr für eine Entsolidarisierung zu sehen. Die Briefe und Kassiber der RAF nach drinnen und draußen lesen sich wie Befehl, Selbstgeißelung und Psychoterror, um eine innere Härte zu erzwingen. Die Selbstkritik wirkte als fatale Beichte gegenüber der Gruppe oder dem "Führer" Baader. Denunziation und Fäkaliensprache griff um sich und zeugte von Wahn und zunehmender intellektueller Verwahrlosung. Die Hungerstreiks wurden als Selbstzüchtigung verstanden. Die Wirklichkeit entschwand zu einer Fata Morgana des Bösen.

Dieser Fanatismus erfaßte auch die zweite Generation, die nun alles daransetzte, die Genossen aus dem "Knast" zu befreien. Die Skrupellosigkeit und die Brutalität der Schleyer-Entführung zeigten, daß die Akteure während eines Aufenthalts im Nahen Osten oder einem Ostblockland eine hervorragende militärische Ausbildung erhalten hatten. Man durfte annehmen, daß ein "interessierter Dritter" durchaus ein Interesse daran hatte, die sozial-liberale Koalition oder den erfolgreichen Rechtsstaat zu schwächen. Noch heute wird über die "dritte Generation" gerätselt, ob sie wirklich bestand oder das Medium ausländischer Dienste war. Das Abrutschen in den Polizeistaat jedenfalls hätte 1977 die rechtsstaatliche und demokratische Konsolidierung der Bundesrepublik zerstört. Obwohl der Kampf gegen den Staat nicht zu gewinnen war, dauerte es noch zwanzig Jahre, ehe die RAF den Krieg endgültig einstellte.

Die Geschichte der RAF enthält durchaus den Hinweis, daß die moderne Stadt im Prozeß der Verslummung und räumlichen Ausweitung zum Kampfgebiet einer Stadtguerilla werden kann. Eine absolute Kontrolle durch Polizei, Spitzel und Überwachungstechnik ist unmöglich. Eine Guerilla kann sich behaupten, sofern sie ein breites Milieu von Unterstützung oder legalen Organisationen findet. Zwar unterliegen derartige Partisaneneinheiten der Gefahr der Selbstisolierung oder der Mythologisierung ihres Kampfes, doch sofern sie die Hilfe "internationaler" Dienste erfahren, können sie sich durchaus behaupten und sogar in einem weltweiten Krieg agieren. Die Abschiebung von Teilen der asiatischen und afrikanischen Überbevölkerung aus den Kriegszonen nach Zentraleuropa schafft ideale Voraussetzungen für künftige Operationen derartiger Kampfeinheiten.

 

Prof. Dr. Bernd Rabehl, Jahrgang 1938, lehrte Soziologie an der Freien Universität Berlin. Er gehörte bis 1968 dem Bundesvorstand des SDS an und war engster Vertrauter Rudi Dutschkes.

Foto: Zeichnung der Angeklagten Jan Carl Raspe, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof am 5. Juni 1975 im Gerichtssaal in Stuttgart-Stammheim: Denunziation und Fäkaliensprache griff um sich und zeugte von Wahn und zunehmender intellektueller Verwahrlosung


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