© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/07 21. September 2007

WIRTSCHAFT
Halbe Wahrheiten sind Lügen
Jens Jessen

Immer wieder wird der Vorwurf laut, Menschen in unserem reichen Deutschland müßten von Stundenlöhnen zwischen vier und sechs Euro leben. Mindestlöhne wie in anderen EU-Staaten müßten eingeführt werden, um diesen Zustand der "Ausbeutung" zu beseitigen. Kaum jemand vermutet hinter diesen Forderungen böse Absichten. Jeder kann nachvollziehen, daß vier Euro nicht mehr als 640 Euro pro Monat bei Vollbeschäftigung ausmachen. Deshalb befürworten über siebzig Prozent der Bundesbürger einen flächendeckenden Mindestlohn. Doch bei näherer Betrachtung ergibt sich ein ganz anderes Bild für die betroffenen Arbeitnehmer: Der Staat erhöht mit dem ergänzenden Arbeitslosengeld II ("Hartz IV") den Arbeitslohn so, daß die laufenden Ausgaben gedeckt werden können.

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat vorgerechnet, daß ein Arbeitnehmer mit einem Bruttolohn von 6,50 Euro, der eine Familie mit zwei Kindern zu versorgen hat, neben seinem Nettolohn von 870 Euro im Monat noch einen ALG II-Zuschlag von 615 Euro erhält. Mit dem Kindergeld von 308 Euro stehe ihm ein verfügbares Einkommen von rund 1.800 Euro zur Verfügung. Ein Arbeitnehmer ohne Transferleistungen müßte 1.900 Euro brutto (etwa elf Euro Stundenlohn) verdienen, um über ein vergleichbares Nettoeinkommen verfügen zu können. Inhaber von Haarstudios weisen darauf hin, daß die angestellten Friseurinnen Geringverdiener sind. Der Versuch, höhere Löhne in ihre Dienstleistung "einzupreisen", sei bisher gescheitert. Die Kunden würden wegbleiben oder den Friseurbesuch zeitlich strecken. Eine Preiserhöhung, die einer Lohnerhöhung von sechs auf elf Euro entspricht, führt daher zu der Schließung vieler Betriebe und damit zu mehr Arbeitslosigkeit.


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