© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/07 21. September 2007

Deutsches Wesen im gebildeten Ohr
Frank Hentschel liefert einen in vielerlei Dingen aufschlußreichen Beitrag über den musikgeschichtlichen Beitrag zur nationalen Identitätsstiftung
Manfred Krafft

Musikgeschichte schnurrt im Medienzeitalter zusammen auf rasch konsumierbare Musikerbiographien. Dem Publikum zumeist in Buchform verabreicht, ab und an, wie in Hollywoods "Mozart", auch auf Zelluloid. Das war früher, zwischen Aufklärung und Adenauer, anders, nämlich enzyklopädischer. Heute völlig vergessene Autoren wie Johann Nikolaus Forkel, Franz Brendel, Joseph Fröhlich, August Wilhelm Ambros oder August Reißmann schrieben zumeist mehrbändige "Geschichte(n) der Musik der älteren und der neueren Zeit" mit dem Anspruch, "Umfassendes" zu bieten.

Daß es darin nicht allein um Einführung ins hehre Reich der Töne "aller Völker und Zeiten" ging, will Frank Hentschel in seiner Berliner Habilitationsschrift nachweisen, die den ein wenig nostalgisch stimmenden, ans "kritische" Milieu der 1970er Jahre erinnernden Titel trägt: "Bürgerliche Ideologie und Musik". Wie einst die zahllosen auf "Ideologiekritik" getrimmten Bändchen der "suhrkamp culture", so setzt Hentschel an, um die ideologische Funktion eines bislang wenig beachteten Genres, der Musikgeschichten des 18. und 19. Jahrhunderts, ihre Abhängigkeit vom politischen, sozialen und kulturellen Umfeld zu ergründen. "Ideologie" umfaßt für ihn "alle Formen von unbefragt verinnerlichten Ansichten, Werten, Prämissen usw., deren Begründungsmangel nicht reflektiert und unbewußt ist".

Ihr hoher Weltanschauungsgehalt macht die Musikhistoriographie zu einem besonders dankbaren Forschungsobjekt. Denn, wie Hentschel in einem ausufernden Eingangskapitel darlegt, gehorchten Auswahl, Beschreibung und Formung des Stoffes gänzlich irrationalen, subjektiven ästhetischen Normen. Allein der Aufklärer Forkel hatte sich, wenn auch vergeblich, noch um einen rationalen Maßstab der Kritik, um die Objektivierbarkeit des musikalisch "Schönen" bemüht. Wer ihm nachfolgte, bekannte sich schon unbekümmert zur Unbegreiflichkeit des Schönen. Mit der Konsequenz, daß damit dem jeweiligen Zeitgeist für die Bewertung älterer Musikepochen Tür und Tor geöffnet wurde. Das Wortgeklingel, das heute noch jedes Musikfeuilleton anreichert, demzufolge Symphonien, Opern, Lieder "innig, edel, schön, seelenvoll, fein, rein, tief" usw. klängen, entfaltete sich in der Historiographie des 19. Jahrhunderts bereits in inflationärer Pracht, obwohl diese Begrifflichkeit über die "Beschreibung des Nachweisbaren" weit hinausführte.

Tatsächlich transponierten ästhetische Urteile, die aus so vagen Begriffen resultierten, nur politisch-weltanschauliche Parteinahmen. Die Autorität der fest im bildungsbürgerlichen Milieu etablierten Historiker und Kritiker ersetzte die mangelhafte Fundierung des Ästhetischen. Sie bestätigten historiographisch, was die Gesellschaft kulturell ohnehin schon ideell einte: "In einer Zeit etwa, in der es üblich war oder doch selbstverständlich schien, daß aus Beethovens Musik deutscher Geist töne, da ließ solches sich behaupten, ohne daß ein Zwang bestanden hätte, es zu beweisen." Genausowenig beweisbar waren andere Wertassoziationen, die akustischen Reizen zuschrieben, einen Zugang zum "Geistigen, Absoluten, Höheren" zu vermitteln. Eingefügt in die bürgerlichen Geschichtsideologeme "Fortschritt" und "Emanzipation", die Hentschel als die "Tiefenstrukturen" aller Musikgeschichten zwischen 1770 und 1870 freilegt, konnten diese Wertschemata älteren oder "primitiven" Musikkulturen kaum Gerechtigkeit widerfahren lassen. Denn wenn der Fortschritt zum "Vollkommenen" zu größerer Harmonik führe, dann mußten "Wilde" auf vormusikalischem Niveau des von Schlaginstrumenten begleiteten "lauten Geschreis" stehengeblieben sein, und auch der mittelalterliche Tonsetzer brachte aus dieser Perspektive zwar mehr als "bloßes Getöse" hervor, war indes weit davon entfernt, "gebildeten Ohren" etwas bieten zu können.

Den gegenüber außereuropäischen Kulturkreisen manifesten Ethnozentrismus begleitete ab 1830 die sich herausbildende Klassifizierung des "Deutschen", die den musikhistorischen "Meistererzählungen" Struktur gab, im konstruierten "Nationalcharakter" "eingeschriebene" Kontinuitäten und Traditionen stiftete. "Deutsches Wesen", verkörpert von den in der Biedermeierzeit zu Denkmalsehren kommenden "musikalischen Heroen", galt es zu erfassen, um, wie Hentschel meint, die nationale Identität des Bildungsbürgertums im Vor- und Umfeld der deutschen Einigungskriege zu stabilisieren. Zugleich diente die Musikgeschichte als Projektionsfläche bürgerlich-moralischer Erziehungsansprüche: Deutschem Wesen entsprechende Musik wirke auf die Hörer als sittliche Macht, während die Gewöhnung an schlechte, "frivole", nur auf "Sinnenkitzel" abzielende französische oder italienische Musik zu einer so "zucht- und maßvollen", "innerlichen" wie "idealen" Lebensführung unfähig mache.

Hentschels vielfach abschweifendes, zitatenbefrachtetes und schwer lesbares Opus bietet einen recht verspäteten, gleichwohl begrüßenswerten Nachtrag zur Aufklärung über die "Deutsche Ideologie" (Marx/Engels), zur Geschichte der kulturellen Identitätsstiftung im Zeitalter des Nationalismus. Ob damit wirklich etwas erfaßt ist, was spezifisch von deutschen Musikhistorikern geleistet wurde, bleibt freilich auch ihm fraglich: denn "das erarbeitete Bild" könne "durch den internationalen Vergleich" durchaus noch "modifiziert" werden.

Frank Hentschel: Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776-1871, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2006, broschiert, 539 Seiten, 45 Euro


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