© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/07 28. September 2007

Keiner will, jeder muß
Berliner Volksbühne: Castorf inszeniert Célines "Norden"
Harald Harzheim

Der Skandalautor Louis Ferdinand Céline machte selbst den abgebrühten Ernst Jünger frösteln. Der traf den Verfasser der "Voyage au Bout de la Nuit" (Reise ans Ende der Nacht, 1932) im besetzten Paris und hörte dessen antisemitische Haßrede, die im Aufruf zum Massenmord mündete. In den "Strahlungen" tituliert Jünger ihn als düsteren Wortzauberer Merlin, als unbewußtes Sprachrohr des Nihilismus. Beim Einzug der Alliierten in die französische Hauptstadt flüchtete der Kollaborateur Céline nach Deutschland. Jünger rätselte, warum jemand, der eiskalt die Köpfe von Millionen fordert, das eigene "lumpige Leben" um jeden Preis retten wolle.

Die Flucht aus Paris verlief über das zerstörte Berlin und Brandenburg. Das Ziel: Kopenhagen, wo Céline sein Vermögen gebunkert hatte. Von dieser Schatzsuche in der Hölle handelt der autobiographische Roman "Nord" (Norden, 1960): eine Textbombe, deren Inhalt genauso zersprengt ist wie ihre comicartigen Satzfetzen, die über 300 Seiten lang auf Elend, Grausamkeit, grelle Exzesse und Apokalypse zoomt. Céline stilisiert sich dabei zum Opfer, zeigt das Leid eines Täters ohne Reue, der rasend um sich schlägt, Gift verspritzt und überleben will. Ein brennendes Untergangsszenario als "Grand Guignol", als blutiges Kasperletheater - so versteht sich der Roman und so präsentiert Regisseur Frank Castorf auch seine Adaption an der Berliner Volksbühne.

Kommt die Vorlage in ihrer Kotzerei und Auflösung von Handlungssträngen der Ästhetik Castorfs bereits maximal entgegen, so eliminiert der noch den Ich-Erzähler. Die Céline-Rolle wird unter den Darstellern rumgereicht wie eine heiße Kartoffel. Niemand will, aber jeder muß für paar Minuten das alte Ekel spielen. Die Regie entwickelt ein Szenario aus Hysterie, Schreien, ratternden Maschinengewehren und Flüchtlingsströmen vor dem Hintergrund eines Viehwaggons, der kürzlich noch in Richtung Auschwitz gefahren sein könnte. Ein Sperrmüll- und Bücherberg deutet auf physischen und geistigen Untergang. Natürlich nimmt Castorf die Selbstzeichnung Célines  als Opfer der Geschichte nicht ernst, zeigt parallel zur Bühnenhandlung Szenen aus dem Christusfilm "Golgotha" (1935), identifiziert das Martyrium Christi ironisch mit dem des französischen Autors, bis zur Verknüpfung von Kreuzigung und Fellatio.

Auch der Textrahmen des Romans erfährt eine fröhliche Sprengung: Als Céline nach dem Krieg seinen Antisemitismus nicht mehr publizierte, fand er einen neuen Sündenbock, den Chinesen. Der lauert am Horizont, um das weiße Europa zu überrennen. Ergo halten bei Castorf die Asiaten bereits im untergehenden nationalsozialistischen Deutschland ihren Einzug. Der Vorsitzende der Reichsärztekammer, Professor Harras, dem Céline in Zornhof begegnet, frönt einem modischen Asienkult und ist mit einer Chinesin (hervorragend: Young-Shin Kim) verheiratet. Die prophezeit höchst pathetisch den verlorenen Krieg, während Harras sich von ihr peitschen läßt. Jeder genießt hier seinen Untergang.

Natürlich ist es leicht, sich über Célines absurde Verschwörungstheorien lustig zu machen. Aber die Sprengkraft seiner Romane liegt in deren "emotivem" Stil, weniger im Inhalt. Wenn die Inszenierung sich von diesem Stil distanziert, jeden Satz ironisch schreien läßt, verliert das Werk sein "anarchoides Element" und versumpft in harmloser Trägheit. Letztlich weiß Castorf das, wenn er sagt: "Die Kunst ist da, um die Sachen zu sagen, die alle anderen, aus welchen Gründen immer, im Augenblick entweder nicht denken wollen, oder nicht mehr die Kraft haben auszusprechen."

Bei letzterem scheint der Regisseur an sich selbst zu denken. Als künstlerische Aufputschmittel verordnete er sich in den letzten Jahren Houellebecq, Dostojewski, Pitigrilli, Bataille sowie Céline. Castorfs Adaptionen hingegen sind bestenfalls homöopathischer Natur. Solche Energielosigkeit im Gesamtergebnis wiegt tragisch, bietet die "Norden"- Inszenierung doch vereinzelte Momente, die der Intensität des Romans in nichts nachstehen, wie die Prozession von Verletzten bei Akkordeonmusik, die Demütigung einer Kriegsgefangenen oder eine orgiastische Revue, die selbst dem Revuegirl-Fan Céline gefallen hätte.

Die Zerstörungswut des Nihilismus übt eine unheimliche Faszination aus. Jeder Céline-Leser weiß das. Die dahinterstehende Sehnsucht erfährt am Ende der Aufführung ihre Demaskierung: Céline unterhält sich mit Robert Sadoul über seinen emotiven Stil. Im Hintergrund pirscht das Ensemble in Tiermasken, als Füchse, Ratten und Wildschweine; kurzum als Brandenburger Wildpopulation.

Vor Jahren ließ Castorf einen Schauspieler in seiner "Trainspotting"- Inszenierung verkünden, es sei der ausdrückliche Wille der Intendanz, daß die Hinterbühne für wilde Tiere offen bleibe. Egal ob im Drogen- oder Weltkriegsdrama, die "wilden Tiere" sind eine Reaktion auf eindimensionales, bis zur Zerstörung beschränktes Leben. Hier kommt Castorf dem Celine-Rätsel eines Ernst Jünger auf bizarre Weise nah.

Die nächsten Vorstellungen von "Nord" in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Linienstr. 227, finden statt am 29. September, 3., 14. und 20. Oktober, 3. und 24. November, jeweils um 19.30 Uhr. Karteninfo: 030 / 2 40 65-777


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