© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/07 05. Oktober 2007

Staaten aus fremdem Geist
Die 54. Etage des Rockefeller Center: Kultur und Unterirdisches in Nachkriegsdeutschland
Thorsten Hinz

Mit der Wende 1989 brach mit der DDR auch ihr Ruf als "Leseland" und "Literaturgesellschaft" zusammen - zwei geläufige Begriffe, die andeuteten, daß die Literatur dort eine ungleich größere Bedeutung besaß als im Westen. Plötzlich drohte die DDR-Literatur auf eine transformierte Ideologie oder einen von der Stasi gehegten, zensierten und kontrollierten "Sicherheitsbereich" reduziert zu werden. Natürlich war sie das nicht. Selbst ein Unterzeichner von IM-Erklärungen setzt nicht automatisch sein Talent und seine künstlerische Autonomie außer Kraft.

Andererseits war und ist es nötig, die dunkle, unbekannte Seite zu thematisieren. Denn nur so kann der autonome Kunst- vom staatlichen Machtwillen in einem Werk unterschieden werden - sogar zum Vorteil des Autors, wenn sich herausstellt, daß künstlerische Fehlgriffe nicht auf ihn, sondern auf Interventionen der Zensur zurückgehen. Neben dem ästhetischen besteht auch ein kulturhistorisches Interesse. Man möchte herausfinden, ob und wie die Resonanz von Autoren gefördert bzw. verhindert wurden, warum bestimmte Erzählweisen stilbildend, andere verpönt wurden.

Man stelle sich vor, die DDR-Zensur hätte 1959 Uwe Johnsons Manuskript "Mutmaßungen über Jakob" passieren lassen und das Buch wäre in den literarischen Kanon der DDR eingegangen. Der Aufstieg Christa Wolfs zur wichtigsten DDR-Autorin, der 1963 mit ihrem Roman "Der geteilte Himmel" begann, wäre anders verlaufen oder ganz ausgeblieben, ihre Nachrangigkeit evident gewesen. Das Gedankenexperiment entwertet die Bücher von Christa Wolf nicht zwangsläufig, relativiert aber ihren Rang.

Müßte nicht endlich auch überprüft werden, in welchem Maße kulturelle Hegemonien in der BRD auf vergleichbare Einwirkungen zurückgehen? In der vergangenen Woche erschien im Wissenschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen ein ganzseitiger Aufsatz über "Herbert Marcuses Weg vom amerikanischen Geheimdienst zum Paten der Revolte" vom jungen Historiker Tim B. Müller. Es geht um den "transatlantischen Sonderforschungsbereich" eines "Marxismus-Leninismus-Projekts", das "in der 54. Etage des Rockefeller Center in New York ausgeheckt worden war" und von der Freien Universität in West-Berlin aus gesteuert wurde. Dem dogmatischen Marxismus-Leninismus sowjetischer Provenienz sollte ein authentischer, attraktiver entgegengesetzt werden, um Moskau unter den linken Intellektuellen weltweit den Rang abzulaufen. Herbert Marcuse war eine zentrale Figur des Projekts.

Man weiß seit Schrenck-Notzings Klassiker "Charakterwäsche", daß die Umgestaltung des geistigen und kulturellen Lebens in Deutschlands vom amerikanischen Office of Strategic Services  (OSS) detailliert geplant und in Angriff genommen wurde. Der Geheimdienstmann Shepard Stone, der nach 1945 in Deutschland Presse-Lizenzen verteilte, äußerte unverblümt, "Horckheimer, Adorno, Marcuse gäbe es nicht" ohne die "beträchtlichen Mittel" aus den USA. Im Buch "Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik" (1999) wurde von Clemens Albrecht und anderen detailliert beschrieben, wie der Aufstieg der Kritischen Theorie zur Quasi-Staatsideologie mit keineswegs nur geistigen Mitteln in Gang gesetzt wurde.  Von Deutschland aus den "wahren" Marxismus zu propagieren, war naheliegend, weil es das Mutterland des Marxismus war. Außerdem konnte man hoffen, bei noch offenen Grenzen via DDR nach Osteuropa hineinwirken zu können. Das war die Logik des Kalten Krieges. Rückblickend läßt sich aber sagen, daß die Folgen am gravierendsten in Deutschland selbst waren durch die Implantierung einer Staatsideologie, die einen radikalen Bruch mit den meisten Traditionsbeständen impliziert.

Marcuse bekam 1965 in Berlin eine Honorarprofessur und wurde zum Spiritus rector der Studentenbewegung. Seine Unterscheidung zwischen "repressiver" und "befreiender Toleranz" ist heute Teil der Staatsräson. Demnach erfordert die "wahre Befriedung" der "nachfaschistischen Ära", "daß rückschrittlichen Bewegungen die Toleranz entzogen wird, ehe sie aktiv werden können, daß Intoleranz auch gegenüber dem Denken, der Meinung und dem Wort geübt wird (Intoleranz vor allem gegenüber den Konservativen und politischen Rechten)".

Marcuse rechtfertigte das mit einer aktuellen neofaschistische Latenz. Gleichzeitig bewegte er sich in der Bahn einer amerikanischen "Philosophie der Praxis", die der bekannte Philosoph John Dewey bereits 1915 in seinem Buch "Deutsche Philosophie und deutsche Politik" gefordert hatte. Dewey schlug darin einen kühnen Bogen von Kant bis zum Ersten Weltkrieg und - in der erweiterten Neuausgabe 1942 - bis Hitler. Der deutsche Geist war für ihn ein Weltübel, weil er die "Verehrung einer inneren Wahrheit" höher schätze als vorteilhafte "äußere Folgen" und damit im Gegensatz stand "zur Äußerlichkeit des lateinischen Geistes oder dem Utilitarismus des Angelsachsentums".

Nach Dewey erhoben die Deutschen, indem sie Freiheit als äußerste "Freiheit des Geistes" definierten und "mit gründlicher und bis ins einzelne gehender Arbeit in der äußeren Sphäre" verbanden, Anspruch auf einen eigenen geistigen und humanitären Universalismus, der dem liberal-kapitalistischen Universalismus und der "Bildung einer menschlichen Gemeinschaft (...) ohne Rücksicht auf gesellschaftliche, rassische, geographische und nationale Schranken" entgegenstand. Diese "Idee des Friedens", so Dewey bereits 1915, sei nur als "eine Polizeiidee" zu verwirklichen.

Der angelsächsische Universalismus wies mit dem sowjetisch-kommunistischen zahlreiche Berührungspunkte auf und eröffnete Bündnisoptionen - was Linke und Liberale in Deutschland stets besser begriffen haben als domestizierte Unions-Konservative. Der deutschen Buchausgabe der "Deutschen Philosophie" von 1954 folgte ein Jahr später "Die Zerstörung der Vernunft" des Kommunisten Georg Lukács, der ähnlich dogmatisch, aber ungleich kenntnisreicher als Dewey eine Darstellung "des Irrationalismus von Schelling zu Hitler" lieferte.

Nicht nur die DDR, auch die BRD trat in einem sehr umfassenden und tiefen Sinn als Versuchsanordnung der Alliierten ins Leben. Dieser künstliche Charakter bedingte, daß in beiden Staaten das politische und intellektuelle Leben stärker nichtöffentlicher Kontrolle und Einwirkung unterlag bzw. unterliegt als in anderen Ländern der jeweiligen Systeme.

Foto: Herbert Marcuse (M.) am 13. Mai 1968 bei einer Diskussion mit Studenten in der Freien Universität Berlin: Spiritus rector


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