© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/07 05. Oktober 2007

Wasser, Wasser überall
Kino: Jia Zhangkes "Still Life" bannt stumme Gewalt in epische Bilder
Jean Lüdeke

Perfekte Film-Poesie gegen perfide Realpolitik aus dem Land des eher undurchsichtigen Lächelns. Das 2006 mit dem Goldenen Löwen in Venedig belohnte Dramen-Epos "Still Life") erhellt am Beispiel zweier Einzelschicksale, welch verheerende Folgen das Drei-Schluchten-Staudamm-Projekt für die ansässigen Bewohner birgt. Wie auch anderswo auf der Welt ist der desaströse Eingriff allzu eng verwoben mit dem Dasein Einzelner, ihren Lebensstationen, ihren Emotionen und insbesondere ihrem Überlebenskampf. Aber wie kann man massive Kritik an harschen Regierungsmethoden in eher poetisch bedächtigen Bildern zentrieren?

Der 37jährige Regisseur Jia Zhangke ("Kleiner Wu", "Bahnsteig") schafft diesen unglaublichen Kunstgriff, indem er die stumme gestische Gewalt und die beredte Sprachlosigkeit seiner Protagonisten in epische Panoramenbilder bannt. Es ist ein Kino der ruhigen Blicke und Gesten, dem die Worte fehlen, elliptisch verbrämt in teilweise dokumentaristisch anmutenden Kameraeinstellungen. Und es ist die aktuelle cinéastische Antwort - wie auch ähnlich in "Die Töchter des chinesischen Gärtners" (JF 27/07) - auf den gewaltigen Strom zeitgenössischer Gewaltorgien oder Schwert-und Degen-Fantasymärchen aus dem Reich der Mitte.

Und ein gewaltiger Strom bildet auch den allzu wirklichen Plot der nachhaltig wirkenden Spielfilm-Studie: Bergarbeiter Han Sanming (Han Sanming) reist in die Stadt Fengjie am gigantischen Drei-Schluchten-Staudamm des Yangtze-Stroms. Er will seine Ehefrau wiederfinden, die ihn vor 16 Jahren mit ihrem gemeinsamen Kind verließ. Ihr ehemaliges Haus steht jedoch längst unter Wasser. Parallel trifft die Krankenschwester Shen-Hong Guo (Tao Zhao) in der einstigen Heimat ein. Auch sie sucht ihren Ehepartner. Vor zwei Jahren hatte sie den letzten Kontakt; nun soll ein Gespräch endlich Klarheit bringen.

Fengjies Altstadt ist ebenfalls längst Land unter, die Häuser nie mehr bewohnbar. Nur weniges kann gerettet, vieles muß einfach verwaist zurückgelassen werden, weil die vom Stausee überfluteten Häuschen an einem ganz anderen Ort wieder errichtet werden müssen. Der unsichere Neuanfang aller im großen, der behutsame Neuanfang für San-Ming und Shen-Hong im kleinen bildet die zentrale Metapher überhaupt in diesem symbolträchtigen Drama.

Alles andere als klein ist der Yangtzekiang-Fluß, mit 6.400 Kilometern der längste Strom Asiens. Nach jahrzehntelangem Streit konnte Chinas Premierminister Peng Li die Errichtung des weltweit größten und äußerst umstrittenen Staudamms erst 1992 durchsetzen; und das nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Nationalen Volkskongreß, der sonst doch einstimmig votiert. Präsident Zemin Jiang trat nicht mit Li bei der offiziellen Zeremonie zum Start des Mammutprojektes auf. Bei weit über einer Million zwangsumgesiedelter Betroffener aus weiträumig zerstörten und gewässerten Landabschnitten wäre wohl kaum die richtige Feierstimmung aufgekommen ...

Förmlich statt feierlich lotet indes der analytische, alles erfassende Kamera­blick die Hauptdarsteller aus; in einer gut wahrnehmbaren, narrativen Filmsprache, bisweilen eingebrannt in eisigen und moribunden Einstellungen, wobei die gefilmten Momente wie längst vergessene Stilleben mächtig Melancholie atmen. So entsteht hier ein kaleidoskopartiges Porträt der "guten Menschen von den drei Schluchten", wie der Originaltitel wörtlich übersetzt lautet.

Es geht vornehmlich um die kaputten Existenzen der einfachen Menschen, just begriffen im Um- und Aufbruch. Das Leben ist für sie längst kein langer ruhiger Fluß mehr: schon gar nicht, wenn er in einem monströsen Staubecken gefangen, gesammelt und gestaut wird, mit gravierenden Folgeschäden für Mensch, Natur und Infrastruktur.

Schon 1994 begonnen, im Mai 2006 in Betrieb genommen, zählt das Mammut-Projekt mit einem Einzugsgebiet von knapp zwei Millionen Quadratkilometern zu den größten Talsperren der Erde. Es veränderte den "Lebensraum" von einem runden Drittel der Chinesen; das macht fast 1,4 Milliarden Menschen sowie ein Viertel des Ackerlandes aus. Die Staumauer ist 190 Meter hoch und 1.980 Meter lang. Der Stausee selbst erstreckt sich über 600 Kilometer, so weit wie von Hamburg nach München.

Exakt müßte es eigentlich Drei-Schluchten-Talsperre heißen, weil das Absperrbauwerk kein Staudamm, sondern eine Staumauer ist. 13 Städte, 1.500 Dörfer, 500 Hafendocks und 4.000 (!) Krankenhäuser versanken in den braunen Fluten. Nach amtlichen Angaben mußten 1,13 Millionen weichen, Menschenrechtler hingegen sprechen von zwei Millionen.

Die Kosten des Dammbaus wurden anfangs mit 26 Milliarden US-Dollar beziffert, 2002 wurden allerdings schon 50 Milliarden US-Dollar verbaut, so daß die Schätzungen der Gesamtkosten bis 2013 jetzt bei knapp 80 Milliarden US-Dollar liegen - finanziert vom chinesischen Volk, das mit einer Sondersteuer beglückt wird, und bis zu 70 Prozent durch Kredite der staatlichen chinesischen Bank. Ausländische Investoren sind natürlich mit von der fraglichen Partie.

Foto: Filmplakat: Mammutprojekt  und Brücke im Drei-Schluchten-Tal: Gravierende Folgeschäden für Mensch, Natur und Infrastruktur


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