© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/07 12. Oktober 2007

Besser als in Italien
Wiedervereinigung: Der Theologe Richard Schröder und der Journalist Jens Bisky ziehen eine positive Bilanz
Christian Dorn

Vor zwanzig Jahren feierte das durch die Mauer geteilte Berlin auf beiden Seiten streng getrennt das 750jährige Stadtjubiläum. Während die "Hauptstadt der DDR" alles daransetzte, das offiziöse Bild einer sozialistisch beglückten Menschengemeinschaft abzugeben, hatten der Fotograf Harald Hauswald und der Schriftsteller Lutz Rathenow im Westen den provokanten Text-Bildband "Ost-Berlin" veröffentlicht, der die ungeschminkte Seite des realsozialistischen Lebens vor Augen führte.

Aufnahmen daraus sind bis Ende November in einer Ausstellung in den Räumen der Katholischen Akademie Berlin zu sehen. Sie bilden den Hintergrund einer Veranstaltungsreihe, die unter dem Titel "(Un)Erledigtes. Beiträge zur Deutschen Einheit" steht und die "Errungenschaften und Lebenslügen, Dramen und Alltäglichkeiten der Einheit" kenntlich machen will. Zu diesem Zweck diskutierte am Vorabend zum diesjährigen Tag der Deutschen Einheit der Theologe Richard Schröder (SPD) mit dem Journalisten Jens Bisky über die "wichtigsten Irrtümer" der deutschen Einheit.

"Ein Staat mit zwei Gesellschaften"

Bisky, Sohn des Linkspartei-Vorsitzenden Lothar Bisky und Autor der vor zwei Jahren veröffentlichten Streitschrift "Die deutsche Frage. Warum die Einheit unserer Land gefährdet" (JF 27/06), präzisiert sein Diktum, dem zufolge die Einheit "gescheitert" sei. Gemessen an den Erwartungen und Versprechungen Anfang der neunziger Jahre, die eine rasche Angleichung der Lebenswelten und blühende Landschaften versprachen, treffe sein Befund zu, so Bisky. Scheinbar lebten wir "in einem Staat mit zwei Gesellschaften". Deutlich werde dies nicht zuletzt an der Hysterie, mit der die Eliten der alten Bundesrepublik wie jüngst in Mügeln auf vermeintlich rechtsextreme Gewalttaten reagierten.

Während Richard Schröder ihm in diesem Punkt ausdrücklich zustimmt und - in bezug auf Politik und Medien - "Inländerfeindlichkeit" diagnostiziert, sieht er den Ost-West-Gegensatz im milderen Licht. Der Kommentar eines Italieners steht hierfür Pate. Ihm zufolge sei die Einheit in Deutschland schon heute wesentlich weiter fortgeschritten als in Italien.

Für die Enttäuschung vieler Mitteldeutscher macht Schröder die "illusionäre" Erwartung eines "Wirtschaftswunders" verantwortlich - als eine Spätfolge der DDR-Propaganda, die ihren Bürgern glauben machen wollte, ihr Staat sei die elftgrößte Industrienation der Welt. Der "größte Irrtum" der Mitteldeutschen manifestiere sich demnach in dem weitverbreiteten Glauben, die Treuhand habe die DDR-Wirtschaft kaputtgemacht. Die Verschwörungsthese vom "verscherbelten Volksvermögen" sucht Schröder sogleich am eigenen Beispiel zu veranschaulichen, das zeigen soll, wie sich alte "Werte" in Luft auflösten: Noch im Frühjahr 1989, so Schröder, hätte er seinen vier Jahre alten Wartburg zum Neupreis verkaufen können - zwei Jahre später wollte seine Tochter das Auto nicht einmal geschenkt.

Darüber hinaus moniert der Theologe, dessen jüngstem Buch das Motto des Abends entliehen ist, die "so romantische wie totalitäre" Fragestellung, wann die deutsche Einheit "vollendet" sei. Schließlich handle es sich hierbei um einen immerwährenden Prozeß, der erst mit dem Tod der Deutschen ein Ende fände. Unterdessen lebe unter den Ostlern allerdings ein weitverbreitetes Unterlegenheitsgefühl fort. Dieses rühre aber kaum von der sogenannten "Kolonisierung" durch Westdeutschland. Vielmehr sei das Gefühl der Demütigung konstitutiv für das Leben in der DDR gewesen. Die Menschen dort hätten dieses unbewußt in das vereinigte Deutschland mitgenommen.

Streit um die Rolle der Treuhand

Bisky, der sonst in fast allen Fragen mit Schröder übereinstimmt, will sich mit dessen Einschätzungen zur Treuhand nicht zufriedengeben. Während dieser den Vorschlag des Wirtschaftswissenschaftlers Hans-Werner Sinn zur Ausgabe von Anteilsscheinen am Volksvermögen als "sinnlos" abqualifiziert, ist Bisky hinsichtlich der vertanen Chancen anderer Ansicht. Er bemängelt, daß nur fünf Prozent der ehemals volkseigenen Betriebe in mitteldeutsche Hände gegangen seien. Hätte der Staat den Weg in die Selbständigkeit stärker gefördert, könnten es heute 15 bis 20 Prozent sein. Hier kontert Schröder mit dem Beispiel der DDR-Notendruckerei. Deren Mitarbeiter hatten sich geweigert, die angebotenen Anteilsscheine anzunehmen.

Mehr Erkenntnisgewinn spricht aus Biskys Bestandsaufnahme von einer "historisch beispiellosen Wohlstandsexplosion", die mit der Wiedervereinigung einhergegangen sei. Während nach dem Kriegsende 15 Jahre vergehen mußten, bis sich Westdeutsche ein Auto leisten konnten, dauerte dies im Beitrittsgebiet nur fünf Jahre. Dennoch agierten hier zu wenige als "Souverän ihres eigenen Schicksals". Und doch zieht er mit Blick auf die aktuelle Arbeitslosigkeit ein gewagt positives Fazit: Summiere man den Anteil derjenigen, die in der DDR "Unsinniges" produziert hätten (MfS, SED-Parteiapparat, Zensurbehörden etc.), komme man wahrscheinlich auf einen höheren Prozentsatz als den der heutigen Arbeitslosenzahl. Dennoch, so Bisky, sei die Rede vom "Schrumpfen" der Städte und einstigen Wirtschaftsregionen ein viel zu harmloser Begriff, wenngleich es uns für eine Lega Nord noch viel zu gutgehe. Beunruhigend sei aber, wenn wie in Sachsen die NPD in der Wählergunst vor der SPD liegt, denn dies - so Biskys Diagnose - sei primär keine Folge von Arbeitslosigkeit. Schröder versucht auch hier ein wenig gegenzusteuern. In seinen Augen sind Abwanderungstendenzen kein typisches Ostproblem, wie etwa das Ruhrgebiet beweise.

Eine Erfolgsgeschichte indes, die bislang niemand erforscht habe, sieht Bisky in den über zwei Millionen Mitteldeutschen, die seit dem Mauerfall in den Westen gegangen seien, und 900.000 Menschen aus der alten Bundesrepublik, die in die ehemalige DDR gezogen sind. Daß gerade diese determiniert sei durch ausländerfeindliche no-go areas, bestreiten beide in ihrem Schlußwort. Für Bisky sind die zu beklagenden Vorfälle weniger ein Zeichen von rechtsextremer Ideologie als vielmehr Ausdruck von Verwahrlosung. Schröder berichtet derweil von seinem kenianischen Schwiegersohn. Gefragt, ob es in Brandenburg Gegenden gäbe, die er meiden müsse, antwortete dieser, daß er so etwas nicht kenne. Es gebe höchstens die eine oder andere Disko, die man besser nicht betrete.


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