© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/07 12. Oktober 2007

Pankraz,
A. W. Whitehead und die EventkulturW

as heute nicht zum Event gemacht wird, hat keine Chance zu existieren", sagte der verstorbene Jean Baudrillard. Er hatte recht, die Frankfurter Buchmesse bringt es wieder einmal grell an den Tag. An den Büchern defiliert das Publikum vorbei wie an Nichts, kein Titel lockt wirklich, kaum ein Autorname, und sei er noch so berühmt. Was gesucht wird, ist nicht das Buch, sondern der Event. Man will, daß etwas passiert, daß einer vor den Buchständen herumzappelt oder irgendwas vorführt. Mindestens soll eine "Diskussion" stattfinden, ein "geistiger Schlagabtausch". Noch lieber hätte man wohl einen körperlichen Schlagabtausch.

Auch die Buchmesse ist Bestandteil der "Eventkultur" geworden, und Eventkultur ist nicht Lesekultur, sondern vollplastische Sehkultur, Bildkultur. Das deutsche Wort für Event, Ereignis, leitet sich direkt vom Sehen, vom Auge ab, es hieß früher (noch zur Lessing- und Goethezeit) "Eräugnis", bezeichnete das, was einer eräugt, mit dem Auge erfaßt hatte. Wobei von Anfang an ein aktivistisches Moment auf der Erblickt-Seite vorausgesetzt war. Das zu Erblickende mußte etwas von sich hermachen, um wirklich eräugt zu werden. Das Auge mußte gewissermaßen hart angefaßt werden.

Geprägt hat das Wort "Eventkultur" dann 1935 der britische Philosoph Alfred North Whitehead (1861-1947). Er war ursprünglich Physiker und Mathematiker von Graden gewesen, hatte zusammen mit seinem Schüler Bertrand Russell 1913 das monumentale Werk "Principia mathematica" herausgegeben, das zur Bibel der gesamten analytischen Philosophie wurde. Dann erlebte er eine Saulus/Paulus-Wende und wandelte sich zum ganz an den Sinnen orientierten Konkretdenker, der unermüdlich und wortgewaltig vor den Gefahren einseitiger mathematischer Abstraktion warnte.

Nie darf sich ein denkender Mensch als bloßer Mathematiker verhalten, lehrte der verwandelte Whitehead, nie darf er sich blindlings auf leere Abstraktionen einlassen. Denn Abstraktionen, vor allem mathematische Formeln, seien "Abblendung des unmittelbar Wirklichen", fragwürdige Fokussierung. Indem sie etwas fokusscharf herausstellen, wird ihnen alles andere darum herum unscharf. Und so entgleitet ihnen just das, worauf es ankommt, eben der Event, das Ereignis ("Eräugnis").

Ja, räumt Whitehead ein, der Event ist nichts Dauerndes, er ist "nur" ein "Pulsschlag" des Seins. Aber dieser Pulsschlag "vererbt" sich an den nächsten und so fort ins Unendliche. Um dem wahren Sein auf die Spur zu kommen, um an ihm teilzuhaben, müsse man den unendlichen Pulsschlag mit höchster Sinnenschärfe "erfühlen". Event und "Feeling", Ereignis und Gefühl, gehören zusammen, sie sind nicht voneinander zu trennen. Der Event grenzt den Menschen nicht mehr, wie die mathematische Formel, aus der Natur aus, sondern er bettet ihn im Gegenteil dauerhaft in sie ein, und eben dies sei Eventkultur, hochwillkommen, die Kultur der Zukunft.

Man sieht, die moderne Gier nach dem Event hat ein hochvornehmes Pedigree, man könnte sie ohne weiteres als die natürliche Gegenreaktion auf das Übermaß an Mathematik und Konstruktion in unserem industriellen Alltag interpretieren. Gleichzeitig wird deutlich, daß der Event nicht einfach stattfindet und auch nicht einfach gemacht werden kann, sondern daß es einer besonderen Einstellung des Eräugenden bedarf, wenn ein simpler Vorgang zum Ereignis werden soll.

Nietzsche diagnostizierte einst sarkastisch, daß die meisten Menschen regelrecht an den Ereignissen "vorbeileben". Die gewaltigsten Vorkommnisse rollen vor ihren Augen ab, "ganze Sternbilder verschwinden, Völker gehen zugrunde", aber die Seelen bleiben davon merkwürdig unberührt. Der Lärm, den die Vorkommnisse machen, ist dem Event eher abträglich. "Die größten Ereignisse", sagt Zarathustra, "das sind nicht unsre lautesten, sondern unsre stillsten Stunden".

Heidegger hat diesen Gedanken später auf die Spitze getrieben, indem er Ereignis und absolute Stille faktisch zusammendachte. Wir erleben, eräugen das Vorkommnis, doch muß dieses auf einen Moment absoluter Stille (und Leere) in unserer Seele treffen, so daß es nur noch die Begegnung der "einen" Seele mit dem "einen" Vorkommnis gibt - nur das, sagt Heidegger, ist Ereignis, nämlich absolutes, völlig interesseloses Einswerden von Erblicken und Erblicktwerden, "Lichtung des Seins", wie er auch sagt. Ereignisse von diesem Karat prägen sich unauslöschlich in die Seele ein, und nur so, würde Whitehead ergänzen, entsteht Eventkultur.

Verglichen mit solch hohem Anspruch nimmt sich die wirkliche "Eventkultur", wie sie auf der Buchmesse zu besichtigen ist, natürlich geradezu grotesk aus. Es herrscht das Gegenteil von Stille, nämlich vor jeder Koje eigens inszenierter, auf die Bedürfnisse des jeweiligen Verlages zugeschnittener Speziallärm. Der Besucher schreitet von Lärmpunkt zu Lärmpunkt und ist schon zufrieden, wenn er dabei einigen Gesichtern begegnet, die er aus dem Fernsehen kennt, und den Vorlesern oder Diskutanten kollektiven Beifall spenden darf. "Eventkultur" heißt heute in erster Linie gemeinsames In-die-Hände-Klatschen.

Dennoch, wer genau hinsieht, wird in den Mienen der meisten Besucher eine gewisse Sehnsuchtskomponente ausmachen, die während des ganzen Messerundgangs haften bleibt und sich nicht einmal beim Beifallklatschen verflüchtigt. Man ist und bleibt auf der Suche. Man wartet auf den Event, auf den einen Augenblick, da die Inszenierung wie ein Blitz in die Seele einschlägt. Man will auf die Lichtung.

Heidegger übrigens hat das Ereignis, aller gesicherten Etymologie zum Trotz, am Ende nicht als "Eräugnis" gedeutet, nicht als Bildwerdung, sondern als Sprachwerdung, als Aneignung mittels Sprache. Wir werden eins mit dem Sein nicht indem wir es schauen, sondern indem wir es uns sprachlich aneignen, es in Sprache verwandeln. Das paßt ja viel besser zur Buchmesse.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen