© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/07 12. Oktober 2007

Der große Unzeitgemäße
Nachruf: Walter Kempowskis Bücher wird man künftig von Hand zu Hand weiterreichen
Thorsten Hinz

Sein letzter, im vergangenen Herbst erschienener Roman trägt den melancholischen Titel "Alles umsonst". Darin läßt Walter Kempowski den 12jährigen Peter das letzte Boot besteigen, das aus dem umkämpften Ostpreußen ablegt. Der Nachbar aus dem Heimatdorf, ein strammer Parteigenosse, der Peters Familie bespitzelt und denunziert hat, räumt für ihn den Platz. "War nun alles gut?"

Die Frage, mit der das Buch endet, ist natürlich eine rhetorische. Denn selbst wenn das Kind heil im Westen ankommt, es dem Malstrom der Geschichte entrinnt, wird es vom Tod der Eltern und der Tante, vom Heimatverlust, vom gesehenen und erlittenen Elend fürs Leben gezeichnet sein. Mitten im großen Chaos hält Peter Mikroskop und Fernglas fest an sich gepreßt. Von jeher hat er eine Vorliebe für optische Geräte gehabt, um die Dinge möglichst genau in den Blick zu bekommen und sie sich einzuprägen. Wenn es schon nicht gut werden kann, dann soll es wenigstens nicht umsonst gewesen sein und erinnert werden! Wie sein kleiner literarischer Held (und das Alter ego seiner Kindertage) mit dem Fernglas hantiert, so hat Walter Kempowski das Echolot hinabgelassen, um Tiefen und Untiefen der deutschen Geschichte so genau und ehrlich wie möglich auszumessen.

Die Schicksalsschläge, die Kempows­ki in frühen Jahren empfing, betrafen Angehörige seiner Generation gar nicht so selten. Gleichwohl hätten sie für mehrere Leben gereicht. Der Sohn eines Rostocker Reeders wurde 1929 in privilegierte Verhältnisse hineingeboren. Die Großeltern besaßen eine Villa in der Stephanstraße, bis heute die Nobelgegend der Stadt. Doch war ihm vor allem das Zeitalter der Ideologien beschieden, denen er aus früher Lebensklugheit heraus mißtraute.

Im Dritten Reich hörte er lieber Jazzplatten, als dem Ruf der Hitler-Jugend zu folgen. In der Sowjetischen Besatzungszone schloß er sich dem (aus Memel stammenden) Rostocker Jungliberalen Arno Esch an, der wegen Widerstands gegen die stalinistische Gleichschaltung einem Justizmord der Sowjets zum Opfer fiel: ein idealistischer Held wie die Mitglieder der Weißen Rose, heute fast vergessen. 1948 verschwand Kempowski für acht Jahre im Zuchthaus, weil er Informationen gesammelt hatte, daß die Russen über das Reparationssoll hinaus ihre Besatzungszone als Selbstbedienungsladen betrachteten. Unter Qualen bezichtigte er seine Mutter der Mitwisserschaft, die es nicht gab. Sie kam ebenfalls für mehrere Jahre ins Zuchthaus. Die Schuldgefühle darüber sollten ihn ein Leben lang nicht loslassen.

Die Bundesrepublik mochte seinen Widerstand und die erlittene Haft nicht honorieren, der Staat nicht und erst recht nicht das bundesdeutsche Kulturmilieu. Kempowski hatte versucht, in die Vorrechte einer Siegermacht einzugreifen - wie hätte das halbsouveräne Bonn das gutheißen können? Und war sein Antikommunismus nicht anrüchig? Gewiß, die DDR besaß unschöne Eigenschaften, aber hatte sie dafür nicht mit Stumpf und Stiel den Faschismus ausgerottet? Und was sollte es heißen, wenn Kempowski behauptete, daß er an der deutschen Teilung litt? War denn die Mauer nicht die Strafe für Auschwitz, also mehr als angemessen? Kempowskis bitterböse Bonmots, die lange als Granteleien eines Frühvergreisten belächelt wurden, sie waren ein höchst feinsinniger Kommentar zu den Idiotien, die das deutsche Tollhaus erfüllten!

Die lange Isolation durch den Kulturbetrieb, die Nadelstiche und die Respektlosigkeit, die ihm durch meist subalterne Figuren zuteil wurden, haben ihn geschmerzt, auch verbittert. In seinen Tagebüchern kann man das nachlesen. Doch nie hat er seine Gegner vor einen moralischen Richterstuhl zitiert, genausowenig wie seine literarischen Figuren. Kempowski wußte und hat beschrieben, wie heillos das Leben und das Schicksal mit den Menschen verfährt. Den Guten schlägt ihr Handeln zum Bösen, den Bösen manchmal zum Guten aus. Die Klugen erweisen sich, wenn die Stunde der Bewährung kommt, als unfähig und feige, und die Dummen und Gemeinen in luziden Momenten als klug und menschlich - so wie im letzten Roman der Nazi-Nachbar. Die Menschen bedürfen der Gnade, und wer gerecht über Menschen urteilen will, muß Gnade walten lassen. Kempowski hatte dazu die Kraft - und besiegte damit seine Gegner.

In den letzten Jahren meinte es die Öffentlichkeit plötzlich gut mit ihm. Er ist vielfach geehrt und gepriesen worden. Die Rede, die Bundespräsident Horst Köhler zur Eröffnung der großen Kempowski-Ausstellung in diesem Sommer (JF 25/07) in der Berliner Akademie der Künste hielt, habe das Unrecht der Nichtanerkennung seiner politischen Gefangenschaft ausgelöscht, äußerte er. Die Narben der zugefügten Wunden schmerzten dennoch bis zum Schluß.

Woher die plötzliche Anerkennung sogar für seine frühen Werke, die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens als konventionell und bieder verspottet wurden? Sie kommt letztlich aus der Einsicht, daß seit 1989 viel mehr und in ganz andere Richtungen ins Rutschen geraten ist, als die einen befürchtet, die anderen erhofft hatten. Wo der Boden derart wankt und schwankt, wird Ausschau gehalten nach dem, was uns ausmacht und geschichtlich definiert. Das erfährt man nicht aus dem epigonalen Modernismus von Wolfgang Koeppen, kaum aus der verquälten Moralprosa von Heinrich Böll oder dem Manierismus eines Arno Schmidt. Was in harmlosen Zeiten als literarisch wertvoll gerühmt wurde, reduziert sich im Rückblick zum sekundären Geschwafel und zur fatalen Ideologiegeschichte. Kempowski dagegen war hinter den Stoff zurückgetreten, hatte einfach versucht zu erzählen, wie es gewesen war.

Einige seiner über dreißig Bücher wird man sicher von Hand zu Hand weiterreichen. Sein mehrbändiges "Echolot" steht ohnehin als ein deutscher Klassiker neben Uwe Johnsons "Jahrestagen". Sein riesiges Tagebuch-, Foto- und Brief-Archiv harrt der Sichtung und Aufarbeitung. Kempowskis Werk wird sich noch lange fortschreiben.

Die Bundesrepublik mochte seinen Widerstand und seine erlittene Haft nicht honorieren, der Staat nicht und erst recht nicht das Kulturmilieu.

Was in harmlosen Zeiten als literarisch wertvoll gerühmt wurde, reduziert sich im Rückblick zum Geschwafel und zur fatalen Ideologiegeschichte.

Foto: Walter Kempowski (1929-2007): Die lange Isolation hat ihn geschmerzt, auch verbittert


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