© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/07 12. Oktober 2007

Klassenkämpfe
Anna Seghers: Lehrerfortbildung Anna Seghers: Lehrerfortbildung
Jörg Bernhard Bilke

Einer der wichtigsten Sätze im ersten Kapitel des Widerstandsromans "Das siebte Kreuz" (1942) von Anna Seghers lautet: "Jetzt sind wir hier. Was jetzt geschieht, geschieht uns." Dieser Satz war heuer das Thema des Zentralabiturs im Fach Deutsch in Thüringen, und er stand als Titel über einer Tagung für Deutschlehrer, zu der das "Thüringer Institut für Lehrerfortbildung" und die nach der Wende in Berlin gegründete Anna-Seghers-Gesellschaft nach Bad Berka eingeladen hatten. Erschienen waren 15 Lehrerinnen und ein Lehrer, die wenig oder nichts über die 1900 in Mainz geborene und 1983 in Ost-Berlin verstorbene Autorin wußten, deren Romane zu DDR-Zeiten immerhin Schullektüre waren.

Sie sollten nun in anderthalb Tagen durch vier Referenten und vier Filme aufgeklärt werden, über Leben und Werk einer kommunistischen Schrift-stellerin, die die "Klassenkämpfe" in Deutschland seit 1927 literarisch begleitet hatte, später erst ins französische, dann ins mexikanische Exil ging, die aber nach 1945 Romane veröffentlichte, die weit unter der dichterischen Substanz ihres Exilwerks blieben, kleinere Prosatexte ausgenommen.

Die Auseinandersetzung mit diesem Werk, das seit dem Jahr 2000 im Berliner Aufbau-Verlag in 23 Bänden erscheint, lohnt besonders dann, wenn man die hier vorgestellte Exilepik wie "Der Kopflohn" (1933), "Das siebte Kreuz" und "Der Ausflug der toten Mädchen" (1946) nicht nur historisch liest, sondern wenn man über DDR-Erfahrungen verfügt, die die Ähnlichkeiten beider Diktaturen bei der Verfolgung Andersdenkender auffinden helfen. Das mag ein außerliterarischer Einstieg sein, doch ist er legitim und wurde in Bad Berka durchaus praktiziert.

Als Beispiel könnte man vielleicht eine Szene aus der autobiographischen Erzählung "Der Ausflug der toten Mädchen" nehmen, wo Anna Seghers, die damals noch Netty Reiling hieß, das Schicksal von Klassenkameradinnen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in Mainz weiterverfolgt bis in den Zweiten Weltkrieg. Da gibt es eine Schulfreundin, die mit ihrem Mann von der Gestapo verhaftet worden war und deren kleine Tochter, die elternlos zurückgeblieben war, in ein "nationalsozialistisches Erziehungsheim" gebracht oder, wie es später hieß, "zur Zwangserziehung abgeholt" werden sollte.

Aber weder der Referentin Christina Schreiber von der Mainzer "Anna-Seghers-Schule" noch den Zuhörern mit ihrer DDR-Biographie fielen die jahrelang von den DDR-Behörden praktizierten Zwangsadoptionen von Kindern durch staatstreue Pflegeeltern ein, deren wirkliche Eltern bei Fluchtversuchen festgenommen und zu hohen Haftstrafen verurteilt worden waren. Obwohl am ersten Tagungsabend im Fernsehen der Film "Die Frau am Checkpoint Charlie" mit Veronica Ferres in der Hauptrolle (JF 39/07) gezeigt wurde, der einem solchen Schicksal gewidmet war, war niemandem die Duplizität der Ereignisse aufgefallen.

Kritische Anmerkungen waren unerwünscht

Von den Referaten waren zwei ausgezeichnet und zwei weniger gut. So machte der Geschichtslehrer Hans Berkessel aus Ingelheim am Rhein auf den fast vergessenen Arbeitslosenroman "Der Kopflohn" aufmerksam, geschrieben am Vorabend der nationalsozialistischen "Machtergreifung" 1933, und Martin Straub aus Jena interpretierte in gekonnter Weise die verschlüsselten Texte "Drei Bäume" (1940). Sehenswert waren auch Sarah Kirschs (Stadtschreiberin in Mainz 1988) Film über Anna Seghers "Briefe an eine Freundin" und Wilhelm von Sternburgs Dokumentation "Ich bin in die Eiszeit geraten", entstanden zum hundertsten Geburtstag der Seghers im Jahr 2000.

Doch wenn man kritische Punkte im Leben der weltberühmten Autorin ansprechen wollte, warum sie beispielsweise erst drei Jahre nach ihrer Ankunft in West-Berlin 1947 nach Ost-Berlin übersiedelte oder warum ihr Ehemann Laszlo Radvanyi, als er 1952 mit seiner mexikanischen Geliebten in Ost-Berlin eintraf, für die Staatssicherheit zu arbeiten begann, wurde man belehrt, daß das unerwünscht wäre. Dabei kann man das alles in den beiden Bänden der von Christiane Zehl Romero 2000/03 veröffentlichten Biographie nachlesen. Es herrscht also kein Denkverbot wie zu DDR-Zeiten, aber in Bad Berka wurde dazu geschwiegen.


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