© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/07 12. Oktober 2007

Eros und Form
Die Entdeckung des Charisma: Thomas Karlaufs Biographie des Dichters Stefan George
Baal Müller

Noch immer gehört es für manche Feuilletonisten zum guten Ton, einem Artikel über Stefan George die Bemerkung vorwegzuschicken, wie fremd uns diese 1933 verstorbene Gestalt der Geistesgeschichte heute geworden sei und wie tief in eine längst vergangene Epoche wir zurückblicken müßten, um die Bewunderung zu konstatieren, die das deutsche Bildungsbürgertum dem Dichter oder gar die Huldigungen, die sein Kreis von Getreuen dem "Meister" entgegenbrachte.

Um so erstaunlicher ist die Aufmerksamkeit, die dem "totgesagten park" seiner oft schwer verständlichen, hochartifiziellen Lyrik und dem "Geheimen Deutschland" seines Kreises, zu dem einige der größten wissenschaftlichen und künstlerischen Begabungen ihrer Zeit gehörten, von germanistischer Seite in den letzten Jahren wieder gewidmet wird. Nur an eine Darstellung der faszinierenden und verstörenden Biographie dieses unheimlichen Menschen hat man sich, von Franz Schonauers verdienstvoller Rowohlt-Monographie von 1960 oder Robert E. Nortons oberflächlich-politisierender Verzerrung des "Secret Germany" (2002) abgesehen, seit Jahrzehnten nicht mehr gewagt; wie eine dicke Mauer verstellte die hagiographische Literatur des George-Kreises den Blick auf "den Meister".

Thomas Karlaufs voluminöses Werk schließt daher eine klaffende Lücke und ist alles in allem ein großer Wurf: innovativ in der Thematik, beeindruckend in der Detailfülle und souverän in der Durchführung, die sich am angelsächsischen Vorbild einer mit vielen erzählerischen Elementen ausgestatteten Biographie - His Life and Times - orientiert. In mehrfacher Hinsicht erscheint Karlauf prädestiniert für dieses gewaltige Projekt, für das sich die sieben Jahre, die er daran arbeitete, sehr zügig ausnehmen: Als junger Mann hat der heute Zweiundfünfzigjährige von 1974 bis 1984 in Amsterdam für die Zeitschrift Castrum Peregrini gearbeitet, die, nach dem Krieg aus einem Freundeskreis von exilierten Dichtern und George-Verehrern um Wolfgang Frommel hervorgegangen, das Erbe des Dichters bis heute pflegt. Karlauf kam damals mit noch lebenden George-Jüngern wie Ernst Morwitz in Kontakt. Das Jahrzehnt beim Castrum, dessen engerer Kreis auch eine Lebens- und Gesinnungsgemeinschaft ist, war sicher lange und prägend genug, um ihn auf eine solche Aufgabe vorzubereiten - aber doch nicht so lange, daß dem späteren Verlagslektor, Ghostwriter (der Biographien von Franz-Josef Strauß und Bruno Kreisky verfaßte) und heutigen, auf historische Biographien spezialisierten Literaturagenten ein freier Blick auf seinen Forschungsgegenstand nicht mehr möglich wäre.

Nicht nur die freie, von Hagiographie wie von mißgünstiger Krittelsucht gleichermaßen entfernte Darstellung, sondern insbesondere der heute unverständlich gewordene Freiheitsbegriff Georges - wie ihn jedoch nur diejenigen Jünger begreifen konnten, die soviel eigene Substanz besaßen, um nicht völlig im Jüngertum aufzugehen - war Karlaufs Leitidee, denn bei aller Stilisierung, die man aus der Außenperspektive mit dem George-Kreis verband, war doch, so Karl Wolfskehl, die "Idee der Freiheit" der "Stern", unter dem "der Bund stand, focht und litt" - eine Freiheit allerdings, die nicht darin besteht, "daß wir nichts über uns anerkennen wollen", sondern darin, wie Goethe 1827 gegenüber Eckermann unterschied, "daß wir etwas verehren, das über uns ist".

Läse man einige der großenteils lobenden bis jubelnden Rezensionen von Karlaufs Buch, ohne dieses bereits zu kennen, könnte man den Eindruck erhalten, seine Darstellung sei nicht nur frei, sondern freizügig, indem sie vor allem auf den homoerotischen Grundzug abhebe, der das Verhältnis des Meisters zu seinen Jüngern beherrsche und in chiffrierter Form auch die Thematik vieler Gedichte präge, in denen George zu Freunden und Weggefährten spricht, ihnen Mahnungen und Weisungen erteilt, ihr Verhältnis zu ihm zu bestimmen sucht oder auch, in epigrammatischer Kürze, auf ihr geistiges Wesen zielt. Ungeachtet der befremdlichen Petitessen - etwa das Alter der Knaben betreffend, die George sich aufgrund ihrer geistigen und körperlichen Vorzüge zu künftigen Jüngern erwählte, und erst recht in bezug auf die menschlichen Tragödien, die das fragile Meister-Jünger-Verhältnis immer wieder heimsuchten - kommt eine Lektüre, die sich in erster Linie "Entlarvung" und Hervorziehung intimer Details erhofft, nicht auf ihre Kosten.

Daß George homosexuell war, ist bekannt; es ist jedoch übertrieben, Karlauf - wie Fritz J. Raddatz in der Zeit - vorzuwerfen, er mache George zu einem "Schwulen, der auch Gedichte geschrieben hat". Vielmehr geht es dem Biographen, wenn man ihn großzügig liest und über gelegentliche reißerische Formulierungen hinwegsieht, darum zu zeigen, wie George seine homosexuelle Veranlagung, zu der er sich niemals bekannte, zu überwinden versucht hat, um sein Konzept eines übergeschlechtlichen pädagogischen Eros zu entwickeln. Manchmal gelang dem Dichter dies, und seine Schützlinge wurden auf eine geistige und menschliche Höhe gehoben, die sie ohne ihn vermutlich niemals erreicht hätten, in anderen Fällen zerbrachen Persönlichkeiten oder wurden in den Selbstmord getrieben.

Karlaufs Buch trägt den Titel "Stefan George - Die Entdeckung des Charisma", vielleicht sollte der Untertitel aber eher lauten "Die Stilisierung (um nicht zu sagen: Sublimierung) des Eros", denn obgleich der Verfasser Max Webers am Vorbild Georges entwickelte Theorie der charismatischen Herrschaft eingehend behandelt und auf George anwendet, wird doch nicht ganz deutlich, worin denn nun Georges einzigartiger Einfluß begründet ist und woran es gelegen haben könnte, daß nicht wenige, die George teilweise nur wenige Male persönlich begegnet sind (und keineswegs alle homosexuell waren), ihr Leben fortan in dessen Dienst gestellt haben. Dieser charismatische Funken springt nicht über und wird vielleicht auch - wie Raddatz berechtigt kritisiert - von der etwas zeitgeistigen Sprache des Autors erstickt.

Ein gewichtiger Widerspruch liegt schließlich darin, daß Karlauf einerseits klarstellt, "der Fluchtpunkt", auf den eine Beschreibung von Georges Leben zulaufen müsse, könne "nicht das Jahr 1933 sein", und sein Buch konsequenterweise auch mit einem - leider sehr knappen - Abschnitt ("Die Tat") über den 20. Juli 1944 beschließt, daß er andererseits aber trotz des gescheiterten Attentats des George-Anhängers Stauffenberg den "deutschen Geist", wie ihn George aufgefaßt hat, für "mitschuldig" erklärt und gar "für immer im Abgrund der Geschichte" verschwinden lassen möchte.

Karlaufs Werk bietet indes Anhaltspunkte genug für eine alternative Lesart des von ihm geschilderten Lebens. Einer davon könnte sein, daß der Schlüssel zu Leben und Werk Georges in dessen unbedingtem Willen zur Form zu sehen ist: zur Formung einer Dichtung, in deren Mittelpunkt Menschen und Menschenverhältnisse stehen, sowie zur Formung des Menschen nach einem Idealbild des Dichterischen.

Thomas Karlauf: Stefan George - Die Entdeckung des Charisma. Karl Blessing Verlag, München 2007, gebunden, 816 Seiten, Abbildungen, 29,95 Euro

Skulptur auf dem Dach des von Gaudí entworfenen Casa Milá, auch als "La Pedrera" bekannt, im katalanischen Barcelona


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