© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/07 12. Oktober 2007

Der Weg in den europäischen Bürgerkrieg
Ernst Nolte zur Geschichte Europas zwischen 1848 und 1918
Dag Krienen

Von dem hier zu besprechenden Buch räumt sein Verfasser selbst ein, daß es nicht zu seinen Hauptwerken gehört. Zu diesen hat er an anderer Stelle vier Arbeiten gezählt, darunter als letzte "Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945" von 1987. Deshalb könnte man zunächst annehmen, daß Ernst Nolte mit der nun vorgelegten "Geschichte Europas 1848-1918" eine konzise Vorgeschichte dieses europäischen Bürgerkrieges nachliefern und so sein Gesamtwerk abrunden wolle. Einen Anspruch von so hohem Rang erhebt das Buch indes nicht.

Es handelt sich vielmehr um eine für den Druck überarbeitete Vorlesung, die Nolte in Erfüllung seiner "fachlichen Pflichten als Hochschullehrer" mehrfach vorgetragen hat. Der Sache nach dürfte es sich um eine an der FU Berlin zwischen 1974 und 1991 entstandene Pflichtvorlesung zur Epochengeschichte des 19. Jahrhunderts handeln, wie sie jeder Geschichtsprofessor als Einführung für seine Studenten zu halten hat. Als Buch zusammengefaßt, erschien sie zunächst 2003 bei einem Mailänder Verlag in italienischer und erst jetzt in deutscher Sprache. Die auf älteren Manuskripten beruhende Arbeit Noltes stellt somit keineswegs einen Schlüsseltext dar, von dem her ein völlig neues Licht auf seine Hauptwerke fallen würde.

Berücksichtigt man diesen Kontext und läßt von zu hohen Erwartungen ab, so kann man auch diese "Brötchenarbeit" Noltes mit Gewinn lesen. Sie gibt, wie der Verfasser selbst schreibt, "den Blick auf einen sozusagen verborgenen Bezirk meiner Tätigkeit frei", bringt allerdings von der Sache her für Nolte-Kenner nichts wesentlich neues. Für solche Kenner dürfte allerdings die Anwendung seiner spezifischen phänomenologischen Art der Geschichtsbetrachtung auf eine Reihe von in seinen Hauptwerken nur nebenher behandelten Zeiträumen und Themen von Interesse sein, auch wenn eine ganze Reihe von sachthematischen Kapiteln wie über den Marxismus, den Antisemitismus oder den "Nietzscheanismus" nur Derivate seiner größeren Arbeiten darstellen.

Wer jenseits des Interesses am Autor vor allem mehr über die Geschichte Europas im 19. Jahrhundert erfahren will, dem bietet das Buch in 25 Einzelkapiteln einen skizzenhaften Überblick zum einen über die große Politik der Mächte zwischen 1815 und 1918 und zum anderen über wesentliche Kräfte, Tendenzen und Bewegungen, die in diesem Zeitraum wirksam waren. Das Besondere, spezifisch "Noltesche" an der Darstellung besteht indes darin, daß sie dem Leser nicht einige wenige eindeutige, gar vorgeblich notwendig so und nicht anders verlaufende historische Entwicklungslinien aufdrängen will, sondern sich stets bemüht, die Offenheit und Kontingenz der jeweiligen historischen Situation aufzuzeigen.

Natürlich betrachtet Nolte bestimmte Entwicklungen als grundsätzlich determiniert bzw. notwendig. Die große Determinante, das spezifisch "Europäische" in der Geschichte Europas ist für ihn die schon im Dualismus von Kaiser und Papst angelegte, mit der Reformation praktisch unumkehrbare Ausprägung seines "liberalen Systems". Darunter versteht er ein generell "pluralistisches" System, das sich nicht nur als plurale Staatenwelt entfaltet, sondern auch als Pluriversum von religiösen, politischen und gesellschaftlichen Mächten, welche die europäische Geschichte in die Richtung von Säkularisierung, Emanzipation, Demokratisierung und beständiger Selbstüberschreitung trieben und treiben.

Als System souveräner Staaten war Europa im 19. Jahrhundert stets der latenten Gefahr ausgesetzt, daß sich aus kleinen Konflikten ein großer europäischer Krieg entwickeln konnte - konnte, aber nicht mußte. So hat für Nolte selbst der Ausbruch des Krieges von 1914 "soviel mit einem törichten Entschluß und einem Zufall zu tun, daß ihm keine höhere Notwendigkeit zugeschrieben werden kann als dem Nicht-Ausbruch von 1878 oder 1888". Die Europa im 19. Jahrhundert vorantreibenden "anonymen" ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Kräfte folgten zwar manchen Gesetzmäßigkeiten, konnten sich aber miteinander zu höchst eigentümlichen und zunächst unwahrscheinlich anmutenden konkreten Phänomenen verbinden. So ließen die demographische und industrielle Revolution das Erstarken von Arbeiterbewegungen zu einem sehr wahrscheinlichen Ereignis werden. Daß diese um 1900 meistenteils von der Ideologie des Marxismus geprägt wurden, war hingegen nicht von Anfang an ausgemacht.

Natürlich hat Nolte bei der Auswahl der präsentierten Stoffe immer das große Thema des europäischen Bürgerkrieges zwischen Bolschewismus und Faschismus zwischen 1918 und 1945 vor Augen und nutzt seine Vorlesung dazu, die Genese wesentlicher Vorbedingungen dieses "Bürgerkrieges" zu erläutern. Mit dem Marxismus hatten sich die Arbeiterbewegungen in den meisten europäischen Staaten Ende des 19. Jahrhunderts demnach bereits eine Ideologie zu eigen gemacht, die im Rahmen einer weltrevolutionären Erlösungsperspektive zugleich auf die Vernichtung der Gegenklasse abzielte. Umgekehrt waren zu dieser Zeit in Gestalt des Nietzscheanismus und des Antisemitismus bereits ideologische Ansätze für eine Gegenvernichtung vorhanden, zu denen aber noch eine ganze Reihe von weiterer Elementen hinzutreten mußten, um nach 1918 die Bildung von erfolgreichen faschistischen Bewegungen möglich zu machen. Bis 1917/18 besaßen all solche Vernichtungsintentionen nur geringe Realisierungschancen. Blieben Antisemitismus und Nietzscheanismus vor 1914 ohne organisatorische Grundlage und Massenbasis, so gewann der Marxismus zwar beides in Gestalt der II. Internationale und insbesondere der deutschen SPD. Aber gerade in dieser waren vor 1914 reformistische Kräfte im Vormarsch, die keine gewaltsame revolutionäre Machtergreifung mehr anstrebten. Es bedurfte nicht nur des Ausbruchs des Weltkrieges, sondern im Krieg selbst noch manch weiterer historischer Sonderlagen und Zufälle, um aus dieser Situation heraus die Voraussetzungen für den europäischen Bürgerkrieg nach 1918 zu schaffen. Erst die Oktoberrevolution und die erfolgreiche Etablierung eines bolschewistischen Großstaates engten in den Augen Noltes den historischen Spielraum soweit ein, daß ein Zweiter Weltkrieg als ein vernichtender ideologischer Bürgerkrieg in Europa zwar nicht unausweichlich, aber doch zu einer Möglichkeit mit einiger Aussicht auf Realisierung wurde.

Am Ende vermittelt das Buch den Eindruck, daß das "liberale Systems" Europas im Jahrhundert vor 1917 weit mehr Chancen für eine Entwicklung in unterschiedliche Richtungen besessen hat als im Jahrhundert danach, in dem es in eine Katastrophe hineinsteuerte, die zuviel von Europas Kräften und Zukunftschancen aufgezehrt hat. Im Schlußwort hält es Nolte sogar durchaus für wahrscheinlich, daß sich im 21. Jahrhundert dieses System, zum "Liberismus" verkümmert, "auf höchst paradoxe Weise als ein Totalitarismus völlig neuer Art" erweisen könnte.

Ernst Nolte: Geschichte Europas 1848-1918. Von der Märzrevolution bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. F.A. Herbig, München 2007, gebunden, 304 Seiten, 29,90 Euro

Casa Batlló, 1877 errichtet, 1904/06 von Gaudí umgebaut, seit 2005 Weltkulturerbe


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