© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/07 19. Oktober 2007

Kleines Volk, große Gefahren
Estland: Während man sich um die Integration junger Russen bemüht, wandert die eigene Jugend aus / Kritik von Europarat und Uno
Martin Schmidt

Estland ist die mit Abstand wirtschaftlich erfolgreichste frühere Sowjetrepublik. Doch politisch steht es um die 2004 der EU beigetretene kleinste Baltenrepublik weit weniger gut. Im Frühjahr hatte die Verlegung eines sowjetischen Kriegerdenkmals (JF 20/07) aus dem Stadtzentrum von Reval (Tallinn) zu Unruhen zwischen Esten und der russischen Minderheit geführt, bei denen ein 19jähriger ums Leben kam und etwa 150 Personen verletzt wurden. Die Beziehungen zum Nachbarn Rußland sind seither auf einem neuen Tiefpunkt.

Im September griff dann der UN-Sonderberichterstatter für Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung, Doudou Diène, die Innenpolitik Estlands heftig an. Der senegalesische Politologe forderte eine Gleichstellung des Russischen neben dem Estnischen als zweite offizielle Staatssprache. Estland solle sein Konzept der nationalen Identität überprüfen. Es befinde sich hinsichtlich der Sprachen- und Identitätsfrage in der Defensive, aus der es zu einer multikulturellen Gesellschaft aufbrechen sollte, meinte Diène.

Im Oktober verlangte dann der Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (Pace), der niederländische Christdemokrat René van der Linden, eine Besserstellung der russischen Sprachminderheit in Estland. Der Kommissar für Menschenrechte des Europarats, der schwedische Diplomat Thomas Hammarberg, forderte die Regierung in Tallinn sogar auf, die Einbürgerungspolitik bezüglich in Estland geborener Russischsprachiger (über ein Viertel der Bevölkerung) zu überdenken und ihnen den "bedingungslosen Erhalt" der Staatsbürgerschaft zu ermöglichen.

Das jüngste Kapitel dieser langfristig angelegten ethnokulturellen Auseinandersetzung wird an den 63 russischsprachigen Gymnasien geschrieben, die es in der Republik Estland derzeit gibt. Gemäß einer seit September wirksamen Schulreform sollen diese ihren Unterricht schrittweise auf Estnisch umstellen. Am Anfang steht die Vermittlung estnischer Literatur für Zehntkläßler in der Landessprache; andere Fächer wie Geschichte, Erdkunde und Musik werden folgen. Ab dem Jahr 2011 sollen 60 Prozent des Unterrichts in den letzten drei Klassenstufen auf estnisch abgehalten werden.

Mehr Estnisch an den russischen Gymnasien

Die im Bildungsministerium für die Reform verantwortliche Historikerin Katri Raik kommentierte die Neuerungen mit den Worten: "Es geht nicht darum, Russisch aus den Schulen zu verbannen, sondern die Jugendlichen besser auf das Studium und die Arbeitswelt vorzubereiten." Doch die Russen sind in einer Parallelgesellschaft beheimatet, so daß beide Gruppen, wie Raik es ausdrückt, "ohne wirklichen Kontakt nebeneinander her" leben. Bei einer Gesamtbevölkerung von nur 1,3 Millionen Menschen und einem Anteil von rund 400.000 zu Sowjetzeiten zugezogenen Russen sowie weiteren rund 85.000 russischsprachigen Personen mit verschiedenem ethnischen Hintergrund ist das kein Wunder, zumal es massive regionale Konzentrationen in Reval und im Nordosten um die Grenzstadt Narwa gibt (dort sind heute ganze drei Prozent der 70.000 Einwohner Esten).

Ohne eine gezielte Integrationsarbeit wird sich die Kluft nicht schließen lassen. Das hat die im März gewählte estnische Mitte-Rechts-Regierung offenbar erkannt. Sie lockt estnische Lehrer mit Prämien, an den russischsprachigen Gymnasien Estnisch-Unterricht zu erteilen, und plant Gehaltserhöhungen für russische Bürger, die an Schulen in der Landessprache lehren.

All diese Maßnahmen werden jedoch von zwei Entwicklungen konterkariert, die die Zukunft des estnischen Volkes noch mehr gefährden als die Folgen der sowjetkommunistischen Überfremdungspolitik: dem anhaltenden Geburtenschwund sowie der Massenauswanderung gebildeter jüngerer Esten ins EU-Ausland. Seit der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit 1991 sind etwa zehn Prozent der Bevölkerung des Baltikums ausgewandert. Die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau in Estland liegt bei 1,5. Laut einer Uno-Prognose wird die Einwohnerzahl bis 2050 auf unter 800.000 sinken. Beide Entwicklungen zusammengenommen könnten langfristig zu einem völligen Verschwinden der estnischen Nation führen, fürchtet Ulle Valgma, Demographie-Analystin im Revaler Statistikamt.

Eine repräsentative Umfrage aus Litauen zeigt die wichtigste Ursache der Ausreisebewegung: 90 Prozent der vom Meinungsforschungsinstitut Rait befragten Personen nannten als Grund die "Unzufriedenheit mit den Gehältern", deren mittlere Höhe sich im Baltikum auf umgerechnet 300 Euro netto beläuft. Die Zielorte liegen zumeist in Irland und Großbritannien sowie in Deutschland als drittwichtigstem Auswanderungsland für Esten, Letten und Litauer.

Die Krankenschwester oder der Brummifahrer aus dem Baltikum sind hierzulande längst kein ungewohnter Anblick mehr, ebenso die zunehmende Präsenz von Akademikern aus dieser Nordostecke Mitteleuropas. Die finnische Bauarbeitergewerkschaft schätzt, daß allein auf Baustellen in Finnland 10.000 Esten arbeiten. Umgekehrt klagt die Bauwirtschaft der boomenden estnischen Hauptstadt Reval über fehlende heimische Arbeitskräfte und holt sich auf Zeit billige Maurer oder Tischler aus Rußland, Weißrußland oder der Ukraine ins Land. Vor allem Billiglohnarbeiter strömen in das kleine Land an der Ostsee, während nur wenige hochqualifizierte EU-Ausländer vorübergehend in Estland tätig sind. Das estnische Staatsbürgerschafts- und Migrationsamt bezifferte im Herbst 2005 die Zahl der legal vor Ort arbeitenden EU-Ausländer auf 6.929, zumeist Finnen, Letten und Litauer sowie 500 Deutsche.

Besorgniserregend ist der Umstand, daß Estland - einer Studie des italienischen Instituts Eures von 2005 zufolge - auf europäischer Ebene die bei weitem höchste Mordrate aufweist. Auf 100.000 Einwohner entfallen demnach 10,4 Morde, knapp gefolgt nur von den anderen baltischen Staaten Lettland und Litauen mit einer Quote von je 9,5.

Der Durchschnittswert der alten EU-Mitglieder liegt bei "nur" 1,5. Selbst die USA wiesen zuletzt im Schnitt deutlich weniger Morde als Estland auf: nämlich 5,6 auf 100.000 Einwohner. Darüber hinaus teilte die Weltgesundheitsorganisation WHO kürzlich mit, daß in Estland ein Prozent der Einwohner zwischen 15 und 48 Jahren mit dem HIV-Virus infiziert sind. Dieser Anteil liegt höher als in jedem anderen Land nördlich von Afrika.

Foto: Umgesetztes Sowjetdenkmal in Estland: Druck aus dem Ausland


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