© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/07 19. Oktober 2007

Im Wartesaal der Geschichte
Die Privatisierung der Vertreibung führt zur politischen Selbstentwaffnung Deutschlands
Thorsten Hinz

Die Konstitutierung des Bundes der Vertriebenen (BdV) vor 50 Jahren am 27. Oktober 1957 erfolgte knapp sieben Wochen nach den legendären Bundestagswahlen, bei denen die CDU/CSU unter Konrad Adenauer die absolute Mehrheit erzielte. Bei dieser Wahl scheiterte der Gesamtdeutsche Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE), der von 1953 bis 1955 sogar in der Regierung vertreten war, an der Fünf-Prozent-Hürde. Es zeichnete sich ab, daß die politischen Organisationen der Vertriebenen zum Opfer ihres eigenen Erfolgs wurden.

Das Wirtschaftswunder, das die erzwungene Mobilität der Heimatlosen überhaupt erst ermöglicht hatte; der Lastenausgleich, die großzügige Integrationspolitik, zu der sich der Staat unter ihrem Druck bereitfand, hatten die Not gelindert und Millionen Entwurzelter einen Neuanfang in der Bundesrepublik ermöglicht. Zwölf Jahre nach Kriegsende blieb das Vertreibungsschicksal für die Betroffenen wichtig, aber es war nicht mehr der alles entscheidende Punkt, von dem aus sie ihre Interessen und politischen Prioritäten ableiteten.

Indem er die Kräfte der zahlreichen und vielfältigen Vertriebenenorganisationen zusammenfaßte, wurde der BdV zu einer einflußreichen Organisation, doch seine Gründung stand bereits im Zeichen der Defensive. Dieser Doppelcharakter blieb bestimmend: Auf der einen Seite stand er unter dem Druck der realpolitischen Lage wie des Realismus der Lebenspraxis. Die besagten, daß weder die USA noch die anderen Verbündeten bereit waren, wegen der Oder-Neiße-Gebiete den Konflikt mit der Sowjetunion zu verschärfen, und daß kein Mensch dauerhaft im Wartesaal der Geschichte leben kann und will. Andererseits war auch die Unmöglichkeit real und elementar, sich umstandslos in die Verhältnisse zu schicken, das erlittene Unrecht stumm hinzunehmen und in neue Rechtsverhältnisse gießen zu lassen.

Jahrzehntelang wurde der Vertriebenenverband als Sachwalter kultureller, sozialer und politischer Interessen zunächst hofiert, dann immerhin noch akzeptiert. Vor allem die Volksparteien konnten es sich nicht leisten, die Vertriebenen zu verprellen. Es war, wie man heute weiß, ein Spiel mit Betrug und Selbstbetrug, von dem alle Beteiligten wußten. Sein Haupt­element war die Fiktion, ein Friedensvertrag könne die Ostgebiete oder wenigstens Teile davon wieder heimholen. Adenauer hielt sie schon Anfang der 1950er Jahre für verloren, während seine Regierung noch bis in die sechziger Jahre hinein behauptete, sich im Kampf um ihre Rückgewinnung zu befinden. Der SPD-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Willy Brandt donnerte 1963 in einer Grußbotschaft zum Schlesiertreffen, Verzicht sei Verrat, das Heimatrecht dürfe nicht gegen ein Linsengericht verhökert werden!

Jedem Realisten war indes klar, daß die Grenzen von 1937 nur die Ausgangsbasis für Verhandlungen sein konnten, nicht ihr Endziel. Diese Basis aber war wichtig! Zum einen war der juristische Fortbestand des Deutschen Reiches die staatsrechtliche Grundlage, um den Anspruch auf die Wiedervereinigung einzuklagen. Zweitens sollte der Verlust der Vertreibungsgebiete eventuelle neue Reparations- und Entschädigungsforderungen der ehemaligen Kriegsgegner neutralisieren. Während die deutsche Einheit 1990 mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag rasch unter Dach und Fach gebracht wurde, ist das Verlustargument ohne Wirkung geblieben. Sonst gäbe es keinen Streit um die Beutekunst, und die Forderungen nach neuen Reparationen, Entschädigungen usw., die seit 1990 an Deutschland gestellt wurden, wären weitgehend erfolglos geblieben. Weder die Bundesregierung noch die Öffentlichkeit haben die Sachlage und die berechtigten Interessen Deutschlands plausibel gemacht.

Die Stimme des BdV dringt längst nicht mehr durch. Sein politischer Einfluß ist heute minimal. Die Grenzfrage stellt er nicht mehr, von den Entschädigungsklagen der Preußischen Treuhand hat BdV-Präsidentin Erika Steinbach sich klar distanziert. Sein wichtigstes Projekt, das Zentrum gegen Vertreibungen, stockt oder droht verwässert zu werden. Gibt es unter diesen Umständen für ihn überhaupt noch eine Aufgabe und Existenzberechtigung?

Die Antwort lautet: Ja! Um sie zu begründen, muß der Frage nachgegangen werden, warum die Vertreibung der Deutschen - die größte ihrer Art - nicht weltweit als eine Verletzung von Moral und Rechtlichkeit bekannt ist und empfunden wird. Der Hinweis auf Hitler erklärt nur die ausgebliebenen Reaktionen in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als ganz Europa im Chaos lag und ein natürliches Rachebedürfnis vorherrschte. Aber selbst Churchill, der die Vertreibungspläne mitbeschlossen und öffentlich verteidigt hatte, tat unter dem Eindruck ihrer Monstrosität bald so, als hätte er mit den Vorgängen nichts zu tun. Seine Sorge um sein Bild in der Geschichte verweist auf eine latente Chance, die Aufnahme der Vertreibung in den Kanon globaler Großverbrechen zu erreichen und damit wenigstens politischen und moralischen Erpressungsversuchen zu begegnen. Warum blieb sie ungenutzt?

Der große Publizist Friedrich Sieburg schrieb 1954, stets sei nur davon die Rede, daß die Schlesier ihre Heimat verloren hätten, dabei hätte auch Deutschland Schlesien verloren! Die Privatisierung der Vertreibung verhindere, daß "der Verlust eines Gebietsteiles zur Sache des ganzen Volkes" werde. "Der Schlag, der die Heimat trifft, kann wohl nachbarliches Mitgefühl erregen, aber er kann politische Wirkungen erst dann haben, wenn er vom Ganzen empfunden wird, und zwar nicht in seinen wirtschaftlichen Auswirkungen, sondern in den Lebensvorstellungen der Nation." Sieburg verweist auf den heiligen Zorn, der Frankreich wegen der Abtretung Elsaß-Lothringens nach 1871 erfüllte. "So wurde die Annexion zum Sakrileg, zu dessen Sühnung die halbe Welt aufgerufen wurde." Seine Formulierung und Propagierung sei die Sache der Intellektuellen gewesen.

Dagegen ließe sich anführen - und Sieburg tut es selbst -, daß die Situationen verschieden waren und deutsche Intellektuelle schlecht beraten gewesen wären, sich ein Vorbild am alten französischen Nationalismus zu nehmen. Im Rückblick ergibt sich freilich, daß sie genau das getan und nur die Vorzeichen vertauscht haben, indem sie die Vertreibung der Deutschen zur angemessenen Sühne deutscher Sakrilege erklärten, was auf die politische Selbstentwaffnung hinauslief. Der Bund der Vertriebenen und sein Zentrum gegen Vertreibungen symbolisieren wie keine andere Institution in Deutschland ein anderes, besseres Wissen.


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