© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/07 19. Oktober 2007

CD: Klassik
Deutlichkeit!
Jens Knorr

In Leipzig haben weder Robert Schumann noch Gustav Mahler ihr berufliches Auskommen gefunden. Der eine kann zwar drei seiner vier Symphonien vom Gewandhausorchester uraufführen lassen, aber seine Hoffnung, Nachfolger von Mendelssohn am Gewandhaus zu werden, erfüllt sich nicht. Der andere hält es als zweiter Opernkapellmeister hinter dem ersten Mann, Arthur Nikisch, nur zwei Jahre aus. Der eine zieht nach Dresden, der andere nach Budapest. Der eine wird zeitlebens der komponierende Ehemann seiner Frau bleiben, der weltberühmten Pianistin Clara Schumann, der andere zu einem weltberühmten Opern- und Konzertdirigenten werden, eine komponierende Ehefrau anbei.

Und doch scheint die Musik des einen für die Komponistenlaufbahn des anderen bestimmend gewesen zu sein. Mahler hat Schumann als Solist, vierhändig und in Kammermusikensembles gespielt, er hat Schumanns Orchesterwerk dirigiert, nicht ohne vorher die Instrumentierung kritisch zu revidieren. Und es steht zu vermuten, daß der Symphoniker Mahler die Symphonien Schumanns besonders unter formalen Gesichtspunkten studiert hat, um dessen Lösungen der eigenen Kompositionsarbeit nutzbar zu machen. Doch stellt sich beim Hören von Schumanns Zweiter und Vierter in den Fassungen Mahlers, wie sie im Jahre 2006 das Gewandhausorchester Leipzig unter Riccardo Chailly eingespielt hat (Decca 475 8352), weniger die Frage danach, wieviel Schumann in Mahler, sondern vielmehr, wieviel Mahler in Schumann ist.

Zu seinen 1900 für Wien (Vierte) und 1910 für New York (Zweite) ausgeführten Retuschen fühlte sich Mahler berechtigt und verpflichtet. Schumanns Symphonien waren zu Zeiten großer Orchesterbesetzungen und modernen Instrumentariums in den Ruch schlechter, weil arg massiver Orchestrierung gekommen. Mahler stellte das Gleichgewicht der Stimmen wieder her, indem er zumeist Bläserstimmen wegnahm, aber auch dazuschrieb, und er setzte Schumanns Intentionen in seine Gegenwart fort, indem er die Dynamik radikal zuspitzte. Insgesamt 355 Revisionen für die Zweite, 466 für die Vierte - das war Mahlers Art kritischer Aufführungspraxis, geleitet von dem unbedingten Willen, alles Komponierte deutlich zu machen.

Die Wahl von Programm und Orchesterbesetzung, die nicht Schumanns Orchesterbesetzung ist, jedoch die den verwandten Fassungen gemäße - das ist Chaillys Art, Modernität herzustellen und zu verweigern, durch Konservieren zu erneuern. Vormärzlichem gewinnt er spätromantischen Mehrwert ab, wuchtet es - mit oder gegen Mahler? - ins Repräsentative und Erhabene hinüber, passagenlang meint der Hörer Brucknerscher Bergsteigerei beizuwohnen. Den dunkel furnierten, bisweilen dicklichen Klang des Gewandhausorchesters möbelt Chailly auf, macht ihn elastisch, wohl auch marktgängiger, entsorgt ihn aber nicht. Die Einspielungen haben kaum Konkurrenz zu fürchten, sie sollten unbedingt mit der Ersten und Dritten vervollständigt werden.

Die schärfste Konkurrenz für Chaillys Einspielung der Ouvertüre zu Schumanns einziger Oper "Genoveva", zwischen beide Symphonien plaziert, kommt aus dem eigenen Hause und ist gut 30 Jahre alt. Kurt Masur, Gewandhauskapellmeister von 1970 bis 1996, hat sie am Anfang seiner Gesamtaufnahme dramaturgisch schlüssig konzipiert, Chailly bietet sie als brillantes Konzertstück dar.

Die Uraufführung seiner "Genoveva" hat Schumann 1850 in Leipzig dirigiert. Auch mit diesem Stück also bekennt sich der Gewandhauskapellmeister zur besonderen Leipziger Musiktradition. Es wird sich zeigen, ob er dies auch als musikalischer Chef des Opernhauses tun wird. Sein berufliches Auskommen in Leipzig hat Riccardo Chailly, scheint's, gefunden.


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