© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/07 26. Oktober 2007

Zweifel am "enormen Erziehungsbedarf"
Kriminalität: Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes muß der Mord an einem jungen Deutschen in Potsdam neu verhandelt werden
Christian Rudolf

Der im Januar vom Potsdamer Landgericht zu sieben Jahren Jugendstrafe verurteilte Afghane Ajmal K. (JF 04/07) ist vor dem Bundesgerichtshof erfolgreich in Revision gegangen. Der 5. Strafsenat des BGH hat jetzt die schriftliche Begründung zu seinem bereits am 30. August ergangenen Urteil veröffentlicht. Der auf Totschlag lautende Urteilsspruch der Jugendkammer wurde insofern aufgehoben, als das Strafmaß neu verhandelt werden muß. Auch wurde das Landgericht angewiesen, für den erneuten Prozeß einen psychiatrischen Gutachter hinzuzuziehen und mehr als bisher die Umstände zu berücksichtigen, welche zu der Bluttat führten.

Der zur Tatzeit 18 Jahre alte Ajmal K. hatte bei einer Massenschlägerei unter deutschen und ausländischen Jugendlichen in den frühen Morgenstunden des 17. Juni 2006 ein Taschenmesser gezogen und es dem 20jährigen Potsdamer David F. mit voller Kraft in die Herz-Lungen-Gegend gestoßen. F., den der Stich laut Gericht vollkommen unvorbereitet traf, starb noch am Tatort.

Die Richter am BGH beanstandeten die vom Landgericht ausgesprochene Begründung für die Strafzumessung: "Es ist rechtsfehlerhaft, daß die Strafkammer keine hinreichenden Erwägungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten angestellt hat." Wegen der "ungewöhnlichen Diskrepanz", die zwischen der Persönlichkeit K.s und dessen Verbrechen liege, hätte dazu Anlaß bestanden.

Nach Meinung der Bundesrichter sei die "psychische Befindlichkeit" des Täters während der Tat zuwenig berücksichtigt worden. Die Hauptverhandlung vor dem LG Potsdam hatte ergeben, daß K. familiär und sozial "gut eingebunden" war, keine Rauschmittel konsumierte, eine Freundin hatte und sich in der Schule gut führte. Ein Lehrer charakterisierte ihn im Zeugenstand als tolerant und kooperativ. "Mit Konflikten sei er kompromißbereit und sachlich umgegangen und habe bei schwierigen Situationen innerhalb von Ausländergruppen oft vermittelt", faßte der 5. Senat zusammen und sprach K. einen "nahezu mustergültigen Werdegang" zu. Sie fanden es "schwer nachvollziehbar", daß Ajmal K., der zu Beginn der neunziger Jahre mit seiner Mutter in Deutschland Asyl erhielt, "ruhig, zielbewußt, überlegt und ohne jede affektive Erregung (...) einen Menschen getötet haben soll". Möglicherweise sei die "Steuerungsfähigkeit des Angeklagten" eingeschränkt gewesen, er könne im Affekt gehandelt haben. In einem neuen  Verfahren solle dazu ein psychiatrischer Sachverständiger gehört werden.

Der Vertreter der Nebenklage vor dem Landgericht hatte seinerzeit an den Angeklagten die Frage gerichtet, warum denn die ihm attestierte Fähigkeit, Streit ruhig zu schlichten, nicht auch bei der Prügelei mit David F. zum Ausdruck gekommen sei. "Warum nur um alles in der Welt mußten Sie ein Messer ziehen?" Die Frage nach dem eigentlichen Tatmotiv war ungeklärt geblieben, der Angeklagte schwieg dazu.

Bei der Strafzumessung, die "erheblichen Bedenken" begegne, werde künftig zu berücksichtigen sein, ob der gewaltsam Getötete vorher "ausländerfeindliche Schimpfworte" gerufen und K. ein ruckhaft geöffnetes Gittertor an den Kopf geschlagen hätte.

Allerdings hatte die These von einem fremdenfeindlichen Hintergrund der Schlägerei vor der Jugendkammer damals keinen Bestand: Zu schwach wirkte die Behauptung des Angeklagten, und weder konnte einer der zahlreichen Zeugen derartige Beleidigungen glaubhaft bestätigen, noch fand sich jemand, der gesehen hätte, wie K. vom Gittertor getroffen wurde.

Auch den "enormen Erziehungsbedarf", auf den das Landgericht in seinem Urteil vom 10. Januar abstellte, wollte der BGH so nicht gelten lassen. Milderungsgründe wie die Persönlichkeit des Täters und dessen Werdegang seien unberücksichtigt geblieben.

Der tödliche Messerstich gegen David F. war in der Öffentlichkeit mit dem Fausthieb gegen den aus Äthiopien stammenden Ermyas M. verglichen worden. Der Fall des lebensgefährlich verletzten Ingenieurs hatte kurz vor der Fußballweltmeisterschaft eine deutschlandweite Debatte über sogenannte no-go areas für Ausländer in Mitteldeutschland ausgelöst. Das Schicksal David F.s, der nur wenige Woche später erstochen wurde, hatte dagegen nur in den regionalen Medien Aufmerksamkeit gefunden.


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