© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/07 02. November 2007

Geschwächter Souverän
VW-Gesetz: Das Versagen der deutschen Politik ist kein Einzelfall
Jens Jessen

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes zum VW-Gesetz, das der öffentlichen Hand Sonderrechte an dem Wolfsburger Autokonzern sichert, war zu erwarten. Nach EU-Nomenklatur verbietet Art. 56 des EG-Vertrages Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen Mitgliedsstaaten. Eine Definition des Begriffs "Kapitalverkehr" gibt es zwar nicht, aber der Europäische Gerichtshof wußte sich zu helfen. Er erkannte sich eine Deutungshoheit zu, die das Urteil erst möglich machte. Die Entscheidung, so die EU, sei eine gute Nachricht für den Binnenmarkt und den freien Kapitalverkehr. Die vernünftige Begrenzung des Stimmrechts jedes Großaktionärs auf zwanzig Prozent, egal wie hoch sein Anteil am Grundkapital über den zwanzig Prozent liegt, ist damit gekippt. Porsche freut sich. Wie lange, wird sich zeigen.

Dieses Urteil ist ein weiteres Zeichen dafür, daß die Souveränität der Mitgliedsstaaten mehr und mehr ausgehöhlt wird. Über Urteile des Europäischen Gerichtshofs und die von der EU-Kommission vorgegebenen Richtlinien wird Entscheidungskompetenz von den Mitgliedstaaten auf die EU transferiert. Die Einschränkung der Souveränität wird forciert durch die Abschaffung der Einstimmigkeitsentscheidungen und die Einführung von Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit durch den EU-Reformvertrag. Wie das VW-Urteil zeigt, spielt bei der Entmachtung der Mitgliedstaaten der Europäische Gerichtshof eine entscheidende Rolle, der eine sachwidrige Zentralisierung der Rechtsprechung vorantreibt. Als Organ der EU ist er mit Urteilen zu Kompetenzfragen die treibende Kraft der Zentralisierung.

Das Bundesjustizministerium hat für die Jahre 1998 bis 2004 die Zahl der Rechtsakte Deutschlands und der EU gegenübergestellt: 84 Prozent aller Rechtsakte sind Produkte der EU, 16 Prozent stammen aus Berlin. Die Mitgliedsstaaten der EU haben damit weitgehend das Recht verloren, darüber zu befinden, was in ihren Ländern Recht ist. Jeder Bürger spürt das. Das Wasser wird nach EU-Richtlinien gefiltert. Im Verbraucherrecht hat sich Brüssel in neun von zehn Fällen für die Gesetzgebung zuständig erklärt. Supranationalität ist die strukturelle Grundeigenschaft der EU. Mit unmittelbarem Durchgriff in die Mitgliedstaaten setzt die EU Recht, das Vorrang vor den nationalen Gesetzen und auch vor dem nationalen Verfassungsrecht besitzen soll.

Supranationalität und Zentralisierung der Entscheidungsgewalt gefährden zunehmend die Idee einer Gemeinschaft, die nur auf einem inneren Machtgleichgewicht und auf Achtung der nationalen Identität beruhen kann. Die dominante Rolle der EU-Exekutive ist beängstigend. Die Entscheidungen der Agrarministerräte über die Agrarsubventionen in Milliardenhöhe haben für die Mitgliedstaaten unmittelbare Rechtswirkung. Den nationalen Parlamenten werden die Entscheidungen nicht einmal nachträglich zur Begutachtung vorgelegt.

Daß die Souveränität zuschanden geht, liegt an der Untätigkeit der Zuständigen in Deutschland. Wenn EU-Richtlinien in nationales Recht umgesetzt werden sollen, so sind es häufig die zuständigen Ministerien in Berlin, die davon keine Kenntnis nehmen oder nehmen wollen. Ein typisches Beispiel ist das "Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz". Obwohl die inhaltliche Ausgestaltung des Arbeitsrechts in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, hat die Europäische Kommission 1999 durch einen Richtlinienvorschlag für ein Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz  massiv in das materielle Arbeitsrecht eingegriffen, den sie 2000 an den Ministerrat der EU-Mitgliedsländer und an das Europäische Parlament weitergab. Das zuständige Ministerium in Deutschland stellte sich taub und blind. Als die Kommission Verschärfungen vorlegte, regte sich nichts in Berlin. Selbst als die Richtlinie in zweiter Lesung im Rat verabschiedet und im Amtsblatt veröffentlicht wurde, passierte nichts. Eine mögliche Einflußnahme wurde nicht wahrgenommen, obwohl der deutsche Gesetzgeber vier Jahre Zeit hatte, Einspruch gegen den Richtlinienvorschlag einzulegen. Das von der CDU als "Jobkiller"-Gesetz gebrandmarkte Werk wurde sieben Jahre nach der Vorlage der Richtlinie diskutiert, beschlossen und verkündet. Am 18. August 2006 trat das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in Kraft, in der durch Berlin verschärften Form und mit Billigung der Bundeskanzlerin.

Dieses Versagen der deutschen Politik ist kein Einzelfall. In Sachen VW-Gesetz wurde genauso verfahren. Die Kommission gab der Bundesregierung Gelegenheit, sich zum VW-Gesetz zu äußern. Keine Reaktion. Auch eine mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission wurde in der gesetzlich vorgegebenen Frist nicht beantwortet. Die deutsche Exekutive machte so den Weg frei für die Einreichung einer Vertragsverletzungsklage durch die Kommission der EG gegen Deutschland bei dem Europäischen Gerichtshof.

Es wird Zeit, daß Deutschland von den Dänen lernt. Die dänischen Parlamentarier werden an der EU-Politik beteiligt. Sie kontrollieren die dänischen Minister auf europäischer Ebene. Verhandlungsführer dürfen von dem vom Parlament verliehenen Mandat nicht abweichen, es sei denn, das Parlament autorisiert das. Dänische Parlamentarier gestalten Europa mit, deutsche Abgeordnete sind Erfüllungsgehilfen Brüssels. Das muß anders werden.


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