© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/07 09. November 2007

Ladinisches Erwachen
Italien: Immer mehr Gemeinden der Region Venetien wollen sich wieder Südtirol anschließen / Weitere Volksabstimmungen geplant
Bruno Burchhart

Wenn der Südtiroler Landtag die Loslösung Cortinas von Venetien befürwortet, werde ich vor das Verfassungsgericht oder den Europäischen Gerichtshof ziehen", kündigte vorige Woche wutentbrannt Giancarlo Galan an, Präsident der nordostitalienischen Region Venetien (Veneto). "Wer Wind sät, wird Sturm ernten", so der liberale Forza-Italia-Politiker, der auch im römischen Senat sitzt.

Grund für die Drohung sind Volksabstimmungen in drei ladinischen Gemeinden (mit etwa 7.000 Wahlbürgern) der nordvenezianischen Provinz Beilun (Belun/Belluno): Die Bürger von Petsch-Hayden (Anpëz/Cortina d'Ampezzo) sprachen sich zu 77,7 Prozent für einen Wechsel nach Südtirol aus. In Buchenstein (Fodom/Livinallongo del Col di Lana) waren es 85,5 Prozent und in Col (Colle Santa Lucia) 84,6 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei 70, 78 und 66 Prozent. Dieses "Ja" müsse von der hohen Politik akzeptiert werden, so Cortinas Bürgermeister Andrea Franceschi.

Etwa 30.000 Ladiner (sie sprechen das rätoromanische Dolomitenladinisch) leben zumeist in den fünf Tälern, die sich über drei Verwaltungsgebiete (Südtirol, Welschtirol/Trient/Trentino, Beilun) erstrecken. Aber nur in Südtirol haben die Ladiner Minderheitenrechte wie das geförderte Erlernen der Muttersprache in Kindergarten und Grundschule oder proporzmäßige Zuerkennung von Beamtenposten (Lehrer, Polizisten). Daß auch Italiener die Vorzüge Südtirols schätzen (höchstes Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt/BIP aller italienischen Regionen, weniger Steuern, geringe Kriminalität), zeigt Cortina: hier sind nur noch ein Drittel der Einwohner Ladiner. Dabei liegt Venetien mit seinem BIP gut ein Viertel über dem EU-Schnitt - es muß aber im Vergleich zu Südtirol einen größeren Teil seiner Steuereinnahmen für den armen Mezzogiorno abliefern.

Bis Oktober dieses Jahres hatten sich bereits zehn (einst zu Österreich und Tirol gehörende) Gemeinden Beiluns für eine Angliederung an Südtirol ausgesprochen (JF 21/07). Daß nun auch der noble Skiort Cortina d'Ampezzo (wo die Winterolympiade 1956 stattfand) dem Beispiel von Asiago, Conco, Enego, Foza, Gallio, Lamon, Lusiana, Roana, Rotzo und Sovramonte folgt, könnte eine Lawine ins Rollen bringen. Der Chef des Verbandes für Grenzgemeinden, Franco Scalvini, teilte mit, daß etwa "hundert Bürgermeister in Venetien, in der Lombardei und im Piemont dem Beispiel Cortinas folgen und ein Referendum abhalten wollen".

Nach dem Ersten Weltkrieg fiel durch den Raubfrieden von Saint-Germain nicht nur Südtirol an Italien, auch das ladinische Siedlungsgebiet wurde in der Folge zerschnitten. Die neuen Grenzen Südtirols wurden im Pariser Friedensvertrag von 1947 (Gruber-De Gasperi-Abkommen) und im Autonomiestatut (1972) bestätigt. Andererseits ermöglicht der Artikel 132 der italienischen Verfassung den Regionswechsel. Der wiederum bedarf eines vom Parlament in Rom verabschiedeten Gesetzes. Daß Südtirol zustimmt, ist klar, aber die Region Venetien will heftigen Widerstand leisten. Es werde "heute und auch morgen niemand die Region Venetien verlassen", tönte Wirtschaftsassessor Fabio Gava. Der Staat müsse "sezessionistische Tendenzen" unterbinden. Mit Blick auf die Steuervorteile in Südtirol skizzierte der Forza-Politiker auch gleich noch einen Plan B: Sollte es zur Abspaltung kommen, dann müsse sich Bozen darauf gefaßt machen, die Vorteile des Autonomiestatutes mit bis zu 4,5 Millionen neuen Bürgern zu teilen. Im Zweifelsfall würden alle venezianischen Gemeinden ein Referendum zur Angliederung einleiten.

Die Abstimmung in den Dolomiten hat eine neuerliche Diskussion über das Selbstbestimmungsrecht der Völker ausgelöst. Sie zeigt, daß auch im ansonsten immer zentralistischer werdenden Europa sich die Bürger über Staats- und Provinzgrenzen hinweg ihrer Zugehörigkeiten verstärkt bewußt werden.


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