© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/07 16. November 2007

Ohne Freiheit ist alles nichts
Der Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider analysiert den Freiheitsbegriff in der demokratischen Praxis
Klaus Hammacher

Nach jeder Wahl beschleicht den Bürger ein mindestens unwohles, wenn nicht höchst ärgerliches Gefühl der Vergeblichkeit seiner Stimmabgabe, wie auch immer die ausgefallen sein mag. Die Verlierer treten schließlich doch wieder zumindest mit in der neuen Regierung auf; die beabsichtigte Willenserklärung des Wählers jedenfalls kommt nicht zum Ausdruck. Folgerung: Die Parteiendemokratie ist keine Verwirklichung des demokratischen Willens mehr.

Unter diesem Aspekt sollte das äußerst umfangreiche neue Werk von Schachtschneider verstanden werden. Der Verfasser will aufzeigen, wie Freiheit dennoch in der demokratischen Grundkonzeption verwirklicht werden kann, nämlich als Republik. Sein Republikbegriff ist von Kants späten rechtsphilosophischen Schriften geprägt. Damit keine Mißverständnisse entstehen, "Republik" wird darüber hinaus mit den drei Schlagworten der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit charakterisiert, wobei der erstgenannte Begriff Freiheit zentral ist, der letztgenannte weniger emphatisch treffend einmal mit Solidarität wiedergegeben wird.

Nun begnügt sich Schachtschneider aber keineswegs - wie viele philosophische Kant-Bücher - mit einer dem kantischen System immanenten Analyse des rechtlichen Staatsaufbaus, sondern erörtert unter umfassender Berücksichtigung der philosophischen und rechtstheoretischen Literatur die gegenwärtige rechtliche und politische Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland. So klar dabei die Freiheitshindernisse herausgearbeitet werden, insbesondere an der immer weiter wuchernden "Verstaatlichung aller Lebensverhältnisse", bleibt der Freiheitsbegriff selbst doch diffus, weil Freiheit bei aller Bekämpfung des liberalistischen Willkürhandelns doch durch den anderen eingeschränkt verstanden wird, wenn andererseits auch immer wieder betont wird, daß die Einschränkung durch den anderen erst bürgerliche Freiheit ermöglicht.

Hier sitzt Schachtschneider der Historizität der kantischen Position auf. Denn Kants nur ausgrenzende Formel, "daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammenbestehen" können muß (Metaphysik der Sitten), wird bei Kant eben nicht durchsichtig gemacht am Verhältnis von ethischer Freiheit zur Willkür. So bleibt auch die grundsätzliche Unterscheidung zwischen "Moralität" und "Legalität" rechtlich unerkennbar, was sie erst wird, wenn Recht aus dem Prozeß der Ermöglichung von Freiheit nachgewiesen wird.

Dazu muß jedoch die Unabhängigkeit des Rechts von der Ethik, seine Autonomie, begriffen werden, die jene Unterscheidung von Legalität und Moralität begründet. Sie hat Kant jedoch unbeirrbar festgehalten, ja einmal mit dem grotesken Beispiel erläutert, daß selbst bei einem Volk von Teufeln eine republikanische Verfassung möglich wäre (Zum ewigen Frieden 60/61). Schachtschneider geht auf diese Stelle ein, versteht sie aber mit Kersting in dem Sinne, daß damit doch ein "sittlicher Republikanismus" vereinbar sei, da "Recht und Moral verbindlichkeitstheoretisch miteinander unauflöslich verknüpft" seien. Die Frage ist aber gerade: Wie? Ihr weicht Schachtschneider letztlich doch aus und stellt deshalb seine gesamten Ausführungen unter einen sittlichen Aspekt, den er schließlich der bürgerlichen Verantwortung zuweist, auch hier geleitet von dem ebenfalls sowohl ethisch wie rein rechtlich, also doppeldeutig verwendeten kantischen Pflichtbegriff. So kommt der Verfasser zu der Konzeption eines "Richterstaats", da gegenüber Parteilichkeit nur die Rechtsprechung und jede Art von Rechtsvollzug aus dem Pflichtbegriff Sittlichkeit der Gesetzgebung und damit das repräsentative System der Republik garantieren kann.

Die mit diesem Appell an die "praktische Vernunft" zu errichtende erst wahrhaft demokratische Republik duldet keine Herrschaft des Menschen über den Menschen. Daß der Rechtsstaat nicht auf irgendeine Form von Gewaltherrschaft gegründet sein darf, ist eine der wichtigen Einsichten dieses Buches. Leider orientiert sich Schachtschneider hier an dem ideologisch aufgeladenen Herrschaftsbegriff, der ihn dann auch verleitet, den "herrschaftsfreien Diskurs" nach Habermas für die Überprüfung von Geltungsansprüchen des Rechts in Anspruch zu nehmen, obwohl er ihn nicht direkt akzeptiert. Hier ist zu unterscheiden zwischen Herrschaft und rechtlich ausgeübter Macht. Worauf stützt sich aber diese? Da im Diskurs nur logische Allgemeinheit das Recht begründen kann, der auch Kant bei der Bestimmung des kategorischen Imperativs anheimfiel, bleibt Schachtschneider nichts übrig, als sittliche Freiheit im Recht "formal" begründet zu sehen, was nun einmal nur bei theoretischer Verallgemeinerung herauskommt, nicht aber die allgemeine Geltung, der gemäß sich Handeln vollzieht.

Verfolgen wir nur diese philosophische Traditionslinie aus dem reich diskutierten Themenbereich dieser Schrift etwas weiter. Was bei Kant noch naturrechtlich aus der "öffentlichen Meinung" entnommen werden konnte, muß heute aus der weltweiten Geltung der Menschenrechte in den einzelnen Verfassungen spezifisch in Grundrechte und Gesetze gefaßt werden, um zu gelten. Dabei wird das Verhältnis von Erlaubnis zu Gebot und Verbot falsch bestimmt. Erlaubnis wird als Ausnahme vom Verbot begriffen, statt als Berechtigung, etwas tun zu dürfen, wobei dann nicht ein Verbot die Grenzen setzt, sondern positiv nur die Pflicht, die grundsätzlich mit der Erlaubnis verbunden ist, die Pflicht nämlich, die gleichen Rechte des anderen nicht zu verletzen.

Jedoch muß auf die Freiheit in jedem Fall abgehoben werden, da es darum geht, den anderen als freies Wesen zu behandeln, da dieser, wie Fichte in Kants Nachfolge entwickelte, dem Handelnden die eigene Freiheit erst bewußt werden läßt, da er vernünftig auf eine "Aufforderung" reagieren kann. Dazu aber kann er nicht gezwungen werden. Erlaubnis erscheint in Abwehr liberalistischer Positionen jedoch bei Schachtschneider allein negativ bestimmt. Man könnte meinen, es sei der gleiche Erlaubnisbegriff wie bei Kant, aber Kant hatte das "Erlaubnisgesetz" positiv verpflichtend verstanden.

Einerseits stellt Schachtschneider mit Kant fest, "Das Gesetz zu achten ist Pflicht aus Freiheit", andererseits sagt er: "Zum 'Gesetzesgehorsam' zwingt die Verbindlichkeit des Gesetzes." Wenn das Gesetz zu achten, frei aus Pflicht geschieht, dabei aber eine Verbindlichkeit uns zwingt, und zwar aufgrund eines sogenannten "Diskurses", den Schachtschneider auch hier wieder - wenn auch nicht so recht zustimmend - anführt, so bleibt der Zwang für die Verbindlichkeit eigentlich unberechtigt. Folgerichtig schaltet der Autor deshalb den "Gesetzesgehorsam" ein, der den Zwang bewirken soll. Gehorsam ist eine ethische Haltung, eine Tugend. Tugend aber kann das Recht nicht in Anspruch nehmen, damit wir dem Gesetz folgen. Ja, es wäre sogar fürchterlich, das Recht und seine Geltung von der Tugend abhängig zu machen, wie uns am deutlichsten das Beispiel von Robes-pierre in der Geschichte der Französischen Revolution gezeigt hat.

Fazit: das durchgängige Verständnis des Rechts aus den Ansprüchen des Sittengesetzes berührt den Leser zwar sympathisch, bleibt aber philosophisch unbefriedigend. Der Verfasser rettet sich immer wieder mit Kant: "Recht hat die Befugnis zu zwingen." Aber woher? Kant ließ es auch bei dem ethisch aufgeladenen Pflichtbegriff bewenden, den Schopenhauer schon kritisierte. Der Anspruch auf die dem Recht gegenüberstehenden Pflichten muß im Recht selbst begründet sein.    

Der Autor versteht Politik zwar richtig als "politische Verwirklichung des Rechtsprinzips", lädt diese aber dem Bürger mit dem Appell an den "sittlichen Charakter der Bürgerlichkeit" auf. Aber wie erhält man einen solchen? Durch den Zustand der Privatheit, ist hier eine unzureichende Antwort, übrigens eine etwas unglückliche Wortwahl, nachdem die 68er-Revolution alles Private als "privatistisch" unter Verdacht gestellt hat, dem Politischen auszuweichen. In diesem Zustand der Privat-heit des Bürgers, zu dessen Schutz nach Schachtschneider der Staat aufgerufen ist, siedelt er auch den Vertrag an, dessen Einhaltung er konsequent auch nur ethisch gewährleistet sieht, und zwar aus der wechselseitigen Abhängigkeit der Versprechen. Aber deren Verbindlichkeit muß bereits in der Sphäre erlaubten Handelns rechtlich gesichert sein, nicht nur durch den ethischen Appell - man kann Verbindlichkeit nicht wiederum damit begründen, daß durch die Verträge die staatlichen Gesetze vollzogen werden, sondern umgekehrt, Verträge sind verbindlich, ob sie nun nach oder gemäß den staatlichen Gesetzen vollzogen werden oder nicht.

Die Verbindlichkeit gründet in der Gleichheit der Vertragspartner, die Schachtschneider aber jedoch - im Unterschied zu "formal" - "material" abhängig sieht, das heißt deren richtige Bemessung nur von den Interessen der Partner abhängt. So erscheint die Gleichheit als eine "allgemeinverträglich" erst herzustellende  - ein genialer Trick, die soziale Gerechtigkeit in das Rechtskonzept einzubeziehen! -, die aber nur daran krankt, daß die allgemeine Akzeptanz, die das Recht schon immer tragen muß, verlorengeht zugunsten einer noch ausstehenden Rechtfertigung rechtlicher Akte vor dem Sittengesetz.

An solchen Details und den aus ihnen zu ziehenden Konsequenzen wäre das hier nur skizzierte philosophische Gerüst weiter zu überprüfen. Ein wichtiges Buch jedenfalls, das mit der gesamten Diskussion der heutigen Rechtstheorien viel Material und Denkanstöße bietet.

Karl Albrecht Schachtschneider: Freiheit in der Republik. Dunker & Humblot, Berlin 2007, gebunden, 750 Seiten, 48 Euro

 

Prof. Dr. Klaus Hammacher lehrte Philosophie an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Zu seinen Arbeitsgebieten gehört neben dem Deutschen Idealismus auch die Rechtsphilosophie.


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