© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/07 23. November 2007

Auf der Suche nach einer grünen Identität
Die Grünen: Die einstige linke Protestpartei ist im ideologischen Niemandsland angekommen / Wähler aus der Mittelschicht
Rolf Stolz

Am 24. Februar 2007 postulierten die Berliner Grünen auf ihrer Landesdelegiertenkonferenz gleich im ersten Satz einer Erklärung mit dem schönen Titel "Berlin braucht starke und eigenständige Grüne": "Das grüne Milieu der Stadt wächst." Das mag zutreffen oder auch nicht. Aber zuerst sollte man doch einmal fragen dürfen: Was ist überhaupt das grüne Milieu? Die zitierte Erklärung gibt hier keine Antwort, und auch ansonsten antwortet die Partei diffus und verschwurbelt, wenn es um die Frage geht, wer denn eigentlich die gesellschaftlichen Kräfte sind, die sie als Mitglieder, Sympathisanten und Wähler tragen.

Jede Partei schafft sich durch ihre Politik zu einem jeweiligen Zeitpunkt eine spezifische Klientel, die mehr oder weniger fest mit ihr verbunden ist. Wer aber sind die grünen Wähler des Jahres 2007, was wollen sie?

Die Situation ist natürlich im einzelnen differenziert nach Bundesländern, je nachdem, ob es um die Großstädte oder das platte Land geht. Andererseits gibt es eine deutsche Stadt, die in Sachen Grüne nicht allein typisch ist für viele deutsche Großstädte, sondern in der nach aller bisherigen Erfahrung  vorexerziert wird, was später im Geleitzug der Rest der grünen Flotte übernimmt: Fischertown alias Frankfurt. Ebenso süffisant wie zufrieden urteilt die Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Die Frankfurter Grünen vertreten die Besserverdienenden in einer ohnehin nicht gerade armen Stadt. Ihre Wähler haben eine überdurchschnittlich gute Ausbildung und verdienen überdurchschnittlich viel: arrivierte Bürger par excellence."

"Die Grünen", hat einmal ein Frankfurter SPD-Politiker gehöhnt, "sind eine Mittelstandspartei, sie werden von Golf spielenden Damen gewählt, die Angst vor vergifteten Nahrungsmitteln haben." Die bösartige Formulierung ist nicht völlig falsch. Ehefrauen gutsituierter Angestellter in den Bankentürmen, vereinzelt die Ehemänner selber, tendieren ebenso zu den Grünen wie Kreative, IT-Fachleute, Intellektuelle, Lehrer aus der Achtundsechziger-Generation und ihre Nachfolger.

Weit war der Weg von der Bürgerschreck- zur Bürgerpartei, von Jutta Ditfurth, der ersten grünen Stadtverordneten, zu Jutta Ebeling, der ersten grünen Dezernentin. Welten liegen zwischen den Grünen von 1981, die mit Gasmasken in das Stadtparlament einzogen, um "gewaltfreien Putz" zu machen, und den Grünen von 2006, deren Fraktionsvorsitzender Lutz Sikorski kürzlich der CDU-Oberbürgermeisterin Petra Roth artig Komplimente machen.

Wieviel sich geändert hat, sieht man an den Premierenabenden im Varieté Tigerpalast, wenn Direktor Johnny Klinke sein neues Programm vorstellt. Klinke ist eine Legende in Frankfurt: Hausbesetzer, Straßenkämpfer, revolutionärer Opel-Arbeiter, Mitglied der Joschka-Fischer-Gang, bis heute enger Freund des ehemaligen Außenministers - und jetzt der Liebling von CDU-Oberbürgermeisterin Petra Roth. Sie sitzt bei den Tigerpalast-Premieren immer auf der "Regierungsbank" an der linken Seite des Saals und amüsiert sich köstlich. Auch der CDU-Parteivorsitzende Udo Corts, in Wiesbaden Wissenschaftsminister, ist bei solchen Anlässen zuweilen zu sehen, ebenso wie Herren aus Frankfurter Vorstandsetagen und alte Freunde aus Klinkes Umsturz-Zeiten. Der Direktor selber ist nicht Mitglied der Grünen, aber er verkörpert das Milieu, aus dem sie erwuchsen. Zugleich steht Klinke dafür, daß die Grünen hineingewachsen sind in die Frankfurter Stadtgesellschaft, ja, man kann ruhig sagen: "in die gute Gesellschaft".

Dazu paßt, daß der Nachfolger des Ober-Grünen Daniel Cohn-Bendit als Integrationsstadtrat ein CDU-Mann ist: Albrecht Magen führt nicht nur das Amt für multikulturelle Angelegenheiten weiter, sondern auch die Politik Cohn-Bendits, und zwar anerkanntermaßen so gut, daß sogar die Grünen nichts oder zumindest fast nichts daran auszusetzen haben, wie die FAZ vermerkte.

Gerade diese Verbürgerlichung erzeugt aber jene hochkomplexe Situation, in der einerseits mit den ersten Erfolgen der "Linken" im Westen (eine vorgeblich neue Partei mit viel Geld und mit zwei Medienstars, gegen die die Claudia, der Reinhard und der Fritz ziemlich alt aussehen) die Grünen unter massiven Konkurrenzdruck geraten und in der sie doch andererseits nur sehr begrenzt die alte linke Platte auflegen können. Der nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete Rüdiger Sagel, der von den Grünen zur "Linken" wechselte, konstatierte zutreffend: "In den Achtzigern waren die Grünen ganz deutlich links, später dann zunehmend weniger. ... Nun sind die Grünen in der Mitte des politischen Spektrums angekommen."

Ganz ähnlich sieht es Romanus Otte in der Welt: "Die Grünen waren eine fest im linken Milieu wurzelnde Oppositionspartei. Doch in ihrer Geschichte haben die Grünen diese Wurzeln immer weiter gekappt." Der Sieg der Realpolitiker über die Fundamentalisten, Regierungsbeteiligungen in den Ländern und im Bund, damit verbunden der Schwenk von einer Gesinnungs- zu einer Verantwortungsmoral, auch das Altern und der wirtschaftliche Aufstieg vieler Grünen-Wähler zählt Romanus zu Faktoren der Veränderung: "Die Grünen sind längst die Partei der Wohlsituierten. Sie sind in weiten Teilen eine bürgerliche Partei - der dieser Wandel aber peinlich ist." Dieser Entwicklungsprozeß spiegelt sich auch in der Mitgliederstruktur wider.

Die Wähler der Grünen kommen vor allem aus der mittleren Altersgruppe.  In den achtziger Jahren überwogen die  jüngeren Wähler. Also altern mit den Mitgliedern auch die Wähler. Die Grünen sind eine Partei der Großstädte, vor allem derer mit relativ viel Bohème und einer Szene halbintellektueller Aufsteiger. Dem entspricht die Selbsteinstufung der Mitglieder: Über die Hälfte schätzen sich als mittlere Mittelschicht ein, was in etwa dem Bundesdurchschnitt und dem Durchschnitt aller Parteien entspricht. Knapp ein Drittel bezeichnen sich als Teil der oberen Mittelschicht, 14 Prozent ordnen sich der unteren Mittelschicht zu. Lediglich zwei Prozent zählen sich zur Unterschicht und sind damit nicht weit von dem einen Prozent entfernt, das sich als Teil der Oberschicht sieht.

Dort, wo viele Studenten, Akademiker, Beamte und Sozialangestellte leben, ist die Bereitschaft höher, auf "Modernisierungsreformen" zu setzen als im proletarischen Umfeld. In Städten wie München, Frankfurt am Main oder Berlin haben die Grünen unter für sie günstigen Umständen bis zu einem Viertel  der Wähler auf ihrer Seite, während sie bundesweit bisher nicht wesentlich über die Zehn-Prozent-Hürde hinauskamen.

Die Mitgliederzahl der Grünen  stieg nach 1983 rasant an  - von 25.000 auf 42.000 im Jahr 1987. In den folgenden  fünf Jahren sank sie wieder um 5.000, erreichte 1998 einen Höhepunkt mit über 50.000 Mitgliedern, ging aber seitdem wieder um einige tausend Mitglieder zurück. Dieses Auf und Ab impliziert, daß im Laufe der vergangenen Jahrzehnte etliche tausend Menschen die Grünen wieder verlassen haben - teils in Abspaltungen, teils in andere Parteien, teils ins Private. Nur noch ein Drittel der heutigen Mitglieder stammt aus der Gründungsphase der Grünen, zwei Drittel stießen seit den ruhigeren neunziger Jahren zu ihnen, über ein Drittel sogar erst seit dem Regierungsbeginn 1998.

Kennzeichnend für die Grünen ist ihr für deutsche Parteien ungewöhnlich hoher Frauenanteil von über einem Drittel und der sehr geringe Rentneranteil von fünf Prozent. Ungewöhnlich auch der hohe Anteil der - zumindest auf dem Papier - Gebildeten: 1998 waren 58 Prozent der Befragten Akademiker, weitere 22 Prozent hatten Abitur, 14 Prozent die Mittlere Reife, sechs Prozent einen Hauptschulabschluß und ein Prozent keinerlei Schulabschluß. Mehr als ein Drittel der Parteimitglieder war damals im öffentlichen Dienst beschäftigt, während es im Durchschnitt bei den anderen Parteien gerade 20 Prozent sind. Das sonstige politische Engagement war und ist ausgeprägter als bei den anderen Parteien: 35 Prozent sind in Umweltschutzorganisationen aktiv, 23 Prozent in Bürgerinitiativen und zehn Prozent in einer Frauengruppe. Tendenziell entwickeln die Grünen eine mehrheitlich atheistische beziehungsweise religionslose Mitgliedschaft (rund zwei Fünftel bei einem Bundesdurchschnitt von einem Fünftel). Unter den kirchlich gebundenen Mitgliedern überwiegen die evangelischen gegenüber den katholischen (35 gegen 22  Prozent). Im Zuge der grünen Islamophilie wächst langsam die noch kleine Gruppe der muslimischen Grünen.

Vielfältige Risse und Widersprüche prägen Bewußtsein wie Gefühlshaushalt des grünen Lagers. Einerseits ist die Partei in vielem immer noch ihren Urthemen wie der Ökologie verpflichtet, andererseits werden zugleich reformistisch-liberalistische und sozial-konservative Positionen vertreten. Sehr zutreffend beschreibt Franz Walter in einem Gespräch mit der taz die gegenwärtige Situation: "Die Grünen sind in einer echten Sackgasse. Nachdem die Partei an der Seite der SPD aus allen Landesregierungen herausgeflogen ist, müßte sie sich eigentlich über schwarz-grüne Koalitionen Gedanken machen. Das können sie aber mit Rücksicht auf ihre Wähler nicht tun. Alle Umfragen haben gezeigt, daß Münteferings Kapitalismuskritik nirgends soviel Zustimmung gefunden hat wie bei den Anhängern der Grünen. Daß die Grünen gar keine Debatten mehr führen und Politik nur noch als Risikomanagement betreiben - das ist für viele ihrer Anhänger doch allzu ernüchternd."

Ob aus der Enttäuschung der grünen Anhängerschaft allerdings eine klare Erkenntnis reift, wie man von den Parteioberen getäuscht wurde, ob Wut sich bündelt und zu Widerstand wird, das muß die Zukunft zeigen. In der Asche der grünen Partei sind noch Funken. Sie können endgültig erstickt werden, aber aus ihnen könnten neue Flammen schlagen. 

 

Rolf Stolz ist Mitbegründer der Grünen. Heute lebt er als Publizist in Köln

Foto: Proteste während des G8-Gipfels in Heiligendamm: Naturgewachsene Wählerklientel der Grünen?


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