© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/07 23. November 2007

Im Wald daheim
Von versunknen schönen Tagen: Zum 150. Todestag des Dichters Joseph von Eichendorff
Wiebke Dethlefs

Kaum ein deutscher Lyriker aus dem 19. Jahrhundert - vielleicht einmal von Heinrich Heine abgesehen - genießt heute noch eine solche Popularität wie Joseph von Eichendorff. Viele seiner Gedichte sind gleichsam zu Volksliedern geworden ("Wem Gott will rechte Gunst erweisen", "In einem kühlen Grunde" und andere - worüber der Autor vergessen wurde), und zumindest eine seiner Novellen, der "Taugenichts", gehört zum Kanon der Weltliteratur. Thomas Mann regte dieses Werk zu seinem zweifellos zartesten Essay an.

Eichendorff (1788-1857) gelingt es in seinen Gedichten, das Gemüt des schlichtesten Lesers wie auch das des Kenners zu bewegen. Die ungeheure Stimmungskraft seiner Lyrik ließ ihn - auch angesichts Goethes - zum zweifellos meistvertonten deutschen Poeten werden. Felix Mendelssohn schuf auf Worte Eichendorffs einige seiner schönsten Chorlieder ("O Täler weit, o Höhen" oder "Wer hat dich, du schöner Wald"), im Schaffen Robert Schumanns nimmt der Liederzyklus nach Eichendorff (op. 39) eine exponierte Stellung ein und gilt als eine der großartigsten Schöpfungen in der Gattung Deutsches Kunstlied.

Max Regers populärstes Orchesterwerk ist eine "Romantische Suite nach Gedichten von Eichendorff" (op. 125). Auch bei Othmar Schoeck, einem der bedeutendsten Liedkomponisten des 20. Jahrhunderts, steht Eichendorff im Zentrum des Werks. Hugo Wolf, ein weiterer Großmeister, der Eichendorffs Lyrik weiten Raum eingeräumt hat, sagte, daß dessen Verse "gedichtete Landschaftsbilder" seien. Was weitergehend heißen kann, daß sie nur aus der Landschaft heraus zu deuten sind, deren Widerspiegelung sie sind.

Das ist einesteils jene schlesische Wald- und Stromlandschaft an der oberen Oder und anderenteils das Donaugebiet zwischen Linz und Wien mit seinen Wäldern, Weinbergen und Burgruinen - vielleicht die "typischste" Eichendorff-Landschaft. Denn erklärte Herzensheimat ist für Eichendorff Wien, das er von allen Städten am meisten liebte, und die Wachau - ein Aufklingen der süddeutsch-österreichischen Komponente seines Schlesiertums. Die Donau spielt in seinen Werk eine wesentliche Rolle: Eine Donaufahrt findet sich am Anfang seines Erstlingswerkes "Ahnung und Gegenwart", eine Donaufahrt ist der Höhepunkt im "Taugenichts", wenn die Hauptfigur über diesen Fluß aus dem Süden in seine Heimat zurückkehrt.

Eichendorff gelang es, diese Landschaften dichterisch-idealisierend in die Weltliteratur zu erheben. "Er beschwört eine heimatliche Landschaft herauf, die es so nie gegeben hat, die aber durchs Wort immer neu entstehen kann. Eine Landschaft, die nirgendwo anders verzeichnet ist als im Atlas der Poesie", wie Rüdiger Safranski feststellte. Weder der Schwarzwald noch der Harz noch der Thüringer Wald, ansonsten doch die "deutschesten" der Landschaften, spielen in Leben und Werk Eichendorffs eine Rolle, doch die poetische Überhöhung nur des Schlesisch-Österreichischen ließ ihn zum reinsten Abbild eines deutschen romantischen Lyrikers und Erzählers werden. Denn in Schlesien, wo  Preußen sich mit Österreich verband, vermählten sich Nord- und Süddeutschland.

Schon im Vorwort zur ersten Gesamtausgabe 1923 wird Eichendorff auf den Thron des "... deutschesten der deutschen Dichter erhoben. In ihm spiegelt sich der Geist des deutschen Volkes am reinsten wider; deutsches Glauben, Hoffen und Lieben, das deutsche Gemüt, der aufrechte deutsche Mannesstolz, die innige deutsche Naturfreude, Kindlichkeit und Sehnsucht".

Hans Pfitzner, auf der Suche nach der "deutschen Seele", griff wohlüberlegt bei der Komposition seiner Kantate zu den Gedichten Eichendorffs. Glücklicherweise vermied es der Zeitgeist dabei bisher, geistige Affinitäten zwischen dem bramarbisierenden Antisemiten Pfitzner (auf welchen er ja meist reduziert wird) und dem freiherrlichen Poeten herleiten zu müssen.

Eichendorffs Schaffen ist sicherlich die schönste, die poesievollste Blüte der deutschen literarischen Romantik. Wie kein anderer kennt er die Klangpalette empfindsamer Grundstimmungen. Sehnsucht, Glück, Wandern in die Ferne, Heimkehr, Hornklänge, Waldzauber und  Waldeinsamkeit. Wie kein anderer Dichter ist er im Wald daheim.

Allerdings gerät diese Romantik nur zu leicht in Gefahr, undifferenziert betrachtet zu werden. Denn auf den ersten Blick manifestiert sich bei Eichendorff eine Welt voll junger, tändelnder, leichthin reimender Dichter, Ritter und Wanderburschen, die stets auf Reisen sind und in Liebesdingen bei zahlreichen gräflichen Schönen reüssieren, denen sie begegnen.

Daß aber der dichtende Freiherr, den man meist seines Titels entkleidet, ein sensibler Beobachter seiner Epoche war, einer Epoche, die sich im Umbruch befand, wird häufig nicht registriert. Freilich hat er nirgendwo in seinem Werk diesem Umbruch nur den kleinsten Raum geben wollen und können. Denn Eichendorff war nicht frei von Ängsten, die ihm aus dem Bewußtsein um die Gefährdung des Menschen in einer sich verändernden Welt erwuchsen.

Eichendorffs zweite Lebensphase fällt in die Zeit der beginnenden industriellen Revolution, der ersten demokratischen Veränderungsversuche. Auch ziehen bereits die ersten Eisenbahnlinien durch das Land (eiserne Ungetüme, die ihn in Furcht und Schrecken versetzen). Dieser Umbruch macht ihn mehr als nur unsicher, verstärkt eine Lebensangst, die ihn seit 1809, dem Beginn des finanziellen Niedergangs seiner Familie, und besonders seit 1822, dem unausweichlich gewordenen Verkauf des Schlosses Lubowitz und seiner Güter, immer wieder bedroht. Im Familienbesitz bleibt lediglich das nordmährische Sedlnitz.

Dieser Verlust seiner nächsten Heimat band Eichendorffs Dichten und Trachten um so intensiver an Oberschlesiens Landschaften, verklärte in ihm die Lubowitzer Kinderzeit und ließ ihn bis in die letzten Jahre heimwehkrank sein, ein Heimweh weniger nach einem bestimmten Ort, sondern eher zu einer vergangenen "Raum-Zeit-Einheit", die ins Irreale verklärt ist. Er begriff, wie Rüdiger Safranski feststellte, daß sich "Vergangenes nur im poetischen Eingedenken retten läßt". "Keinen Dichter noch ließ seine Heimat los" - so konnte Eichendorff die Wurzeln seiner Inspiration kennzeichnen.

Wilhelm Raa­bes unsterbliches Wort vom "Heimweh, das die Quelle aller Poesie sei", findet so bei Eichendorff die schönste Bestätigung. Die "versunknen schönen Tage" begleiteten ihn lebenslang, ließen ihn aber seelisch nicht frei werden, sondern vermochten sogar sein Gemüt zu verdüstern, ja zwangen ihn in eine Art innerer Emigration, die ihn allerdings zum zaubermächtigsten Dichter der Romantik werden ließ.

Natürlich bleibt bei einer so gearteten Kunst auch das Bewußtsein um die  Nachtseiten des Seelischen nicht aus. Wie Eduard Mörike ist auch ein Eichendorff ein tiefer Kenner des Seelischen. Insbesondere im Prosawerk stößt man auf Personen mit solch abgründigem Seelenleben, daß man auch heute, gewöhnt an Psychologie und Psychiatrie, über soviel Wissen und Gestalten ins Staunen gerät. Dabei bleibt es ebenfalls nicht aus, daß bei dem tiefgläubigen Katholiken Eichendorff auch das Bewußtsein um einen allzeit gegenwärtigen Tod mit hinzukommt. Vergänglichkeit und Todesahnung, denen allerdings jeder Schrecken genommen ist, sind der Welt des Dichters nicht fremd, sind oft selbst in den Wanderliedern präsent ("In der Fremde"). Eichendorffs kindliches Gottvertrauen ist etwas Singuläres. Bei keinem anderen Romantiker, nicht bei Tieck, auch nicht bei Mörike und überhaupt nicht in der Zerrissenheit E.T.A. Hoffmanns und Chamissos läßt sich etwas ähnliches finden.

Eichendorff, Beamter im preußischen Staatsdienst, hält sich äußerlich um so fester an traditionelle Gesellschaftsordnungen. Nicht ohne Grund artikuliert sich zumindest in seinen Prosawerken überwiegend die Aristokratie. Deren Vorherrschaft in Staat und Gesellschaft stand für ihn außer Frage. Dies führte im 20. Jahrhundert im sozialistischen Lager zu rascher Aburteilung: Ein Autorenkollektiv stellte in den 1985 in der DDR erschienenen "Erläuterungen zur deutschen Literatur - Die Romantik" lapidar fest, daß "Eichendorff selbst als Romantiker zu nüchtern war, um sich darüber zu täuschen, daß seine eigene Klasse ... ihre historische Rolle ausgespielt hatte. ... Sein Geschichts- und Gesellschaftsbild ist gründlich reaktionär."

Kritik erfährt Eichendorff auch aus einer völlig anderen Richtung: Hermann Kesten hat zunächst nicht ganz unrecht, wenn er in "Meine Freunde, die Poeten" schreibt: "Eichendorff ist ein Philister, der in aufgewühlten Zeiten ein nüchtern banales Leben führte, ein nationalistischer Reaktionär ohne politische Leidenschaft. (...) Er hat wahrscheinlich das kleinste Vokabular unter allen deutschen Klassikern ... Die ganze formelhafte Butzenscheibenpoesie, die schlechten Reime auf Herz und Schmerz, Lust und Brust, Welt und Feld, Wald und schallt, kehren endlos wieder. Hat man ein Gedicht gelesen, kennt man den Ton aller, eine Prosaseite steht für tausend."

Aber wie kann es Eichendorff dann gelingen, mit derart schlechten Mitteln einen solchen Zauber in seinen Gedichten zu bewirken, eine derartige Magie der Stimmung zu erzeugen, die seit über hundertfünfzig Jahren aus seinen Werken fließt? Da muß selbst der nörgelnde Rationalist Kesten passen. Er bleibt auch im großen Kanon der Stimmen der einzige, der den alten Freiherrn schmähen möchte, denn wie Eckhard Henscheid bemerkte, ist Eichendorff "der einzige deutsche Dichter, der zu nichts als Zuneigung, zu nichts als Liebe einlädt, sie erzwingt, ja gar keine andere Regung zuläßt".

Lesen Sie weitere Beiträge zu Eichendorff auf der Seite 14

Foto: Romantische Waldlandschaft im Mondlicht: "Eine Landschaft, die nirgendwo anders verzeichnet ist als im Atlas der Poesie" (R. Safranksi)


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