© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/07 07. Dezember 2007

Pankraz,
der Schamanentanz und die Placebopille

Der erste deutsche Placebo-Kongreß: Die Universität Essen hatte ihn organisiert, statt fand er aber in der Evangelischen Akademie Tutzing in Oberbayern, wo es  landschaftlich viel schöner ist,  die Reden viel lockerer fließen und die Kontroversen viel gemütlicher ausgetragen werden können. Bildeten sich die Teilnehmer wenigstens ein. So war der Erfolg garantiert. Placebo-Effekt!

Man muß sich nur einbilden, daß eine Sache hilft - dann hilft sie auch wirklich. Der Kongreß in Tutzing brachte dafür fast beliebig viele neue, genau beobachtete und sorgfältig überprüfte Beispiele. Kapseln, so erfuhr man, sind stets wirkungsvoller als schlichte Tabletten, auch wenn sie kein Gran mehr chemischen Wirkstoff enthalten als diese, vielleicht überhaupt keinen. Spritzen sind immer wirksamer als Kapseln. Medikamente, die lindern sollen, sollten blau sein, Medikamente, die anregen sollen, sollten rot sein, sie greifen dann besser. Gute Ärzte sollten gute Schauspieler sein. Undsoweiter undsoweiter.

Gesten, Rituale, Sprachmodulationen, gereimter Singsang - all das kann den Heilprozeß nicht weniger beeinflussen als kompakte pharmazeutische Präparate. Ein Kind, das beim Spielen hingefallen ist und sich das Knie aufgeschlagen hat, fühlt sich gleich viel besser, wenn die Mutter tröstend "Heile, heile Gänschen" singt und ein Pflästerchen auf die kleine Wunde klebt. Das Pflaster braucht gar kein Desinfektionsmittel zu enthalten, es muß nur "da" sein, schon heilt es. Denn es ist das Symbol der Heilung.

In Tutzing anwesende Gesundheitspolitiker und Sparkommissare spitzten die Ohren. Inwieweit können Symbole, welche (zur Zeit) kaum etwas kosten, teure Pharmazieprodukte ersetzen? Wie weit reichen die Dimensionen eventueller therapeutischer Sparmaßnahmen? Stehen wir vielleicht vor einer grundlegenden Wende in der Gesundheitspolitik, können die Etats der Kassen demnächst spürbar  entlastet werden? Kommt eine neue "Schamanen-Medizin", die die im Augenblick herrschende hochtechnifizierte Apparate-Medizin teilweise zu ersetzen vermag?

Solche Fragen stellen heißt freilich, sie im wesentlichen zu verneinen. Man sollte sich keine Illusionen machen. Schamanen-Medizin war und ist eine Medizin "im Einklang mit der Natur", sie vertraut auf das allem Lebendigen beigegebene Immunsystem, dessen Möglichkeiten zwar gewaltig sind, das aber natürliche, oft in Millionen Jahren entstandene Grenzen respektiert und sich in sie einfügt. Der moderne Mensch hingegen will die Natur kulturell übersteigen und wenn nötig außer Gefecht setzen, und so auch seine Apparate- und Pillen-Medizin. Diese ist weitgehend ein Unternehmen gegen die Natur.

Sie will das Leben um fast jeden Preis verlängern und ignoriert grundsätzlich seine evolutionsbedingten Grenzen. Sie will Schmerzen und Altersbeschwerden nicht abmildern, sondern prinzipiell beseitigen. Sie will Widersprüche aufheben, die die Natur gesetzt hat, etwa zwischen Wohlleben und Fähigkeit zu hartem Dauereinsatz, Fressen und Gefressenwerden. Ihre Pillen und Apparate sind wie Weltraumstationen in unwilliger Mondlandschaft. Kein neuartiger Schamanentanz wird sie je ersetzen können.

Was aber passiert, ist folgendes: Die moderne, chemisch und technisch orientierte Lehrbuchmedizin und Gesundheitspolitik  versöhnt sich mit schamanischen Praktiken wie Akupunktur und Homöopathie, sie läßt zwar (glücklicherweise) nicht zu, daß sich Gesundbeter und Nadel-Enthusiasten z. B. in schwere Krebstherapien einmischen, hat jedoch nichts dagegen, wenn sie sich in harmloseren Fällen gleichsam als Zusatz-Therapeuten betätigen, wobei ja durchaus manch überraschender Teilerfolg abfallen mag.

Akupunkteure, Homöopathen & Co. werden nicht mehr als Außenseiter oder gar Quacksalber ausgegrenzt, sondern eifrig in den medizinischen Wissenschaftsprozeß einbezogen, was unter anderem bedeutet, daß die Placebos sich nun selber mit Placebos konfrontiert sehen. In Tutzing hörte man von Versuchsreihen, wo ein Teil der Probanden mit "echter" Akupunktur, ein anderer mit Schein- oder Placebo-Akupunktur traktiert wurde, d. h. die klassischen Nadelpunkte der "echten" Akupunktur frech ignoriert wurden. Es stellte sich heraus, daß die "wilden" Nadelungen genauso wirkungsvoll waren wie die klassischen.

Als Resultat des Kongresses ließe sich festhalten: Man soll von Placebos, wenn es um Grenzsituationen, um Leben und Tod geht, die Finger lassen, doch im gewissermaßen "normalen" Gesundheitsbetrieb können sie eine durchaus wohltätige, schmerz-, energie- und kostensparende Rolle spielen. Sie sind eine Art symbolisches Scharnier zwischen Leib und Seele, Körper und Geist, bezeugen deren intensives Zusammenspiel.

Der Therapeut tut gegenüber dem "aufgeklärten", an moderne Methoden glaubenden Patienten so, "als ob" er ihm eine kräftige Medizin allerneuester Zusammensetzung verschreibe. In Wirklichkeit reicht er ihm ein Placebo, vertraut also auf die Selbstheilkräfte des natürlichen Immunsystems. Und der Patient wird geheilt! Geschah das nun, weil sein Immunsystem ganz von allein ordentlich funktionierte, oder geschah es, weil der Proband unverbrüchlich an moderne Medizinen glaubte und die Kraft seines Glaubens das Immunsystem entsprechend günstig reagieren ließ?

"Glaube kann Berge versetzen", wußte die Bibel. Kann er aber auch bei entsprechender Festigkeit Körpersäfte und Körperrhythmen dirigieren, den Körper zum Gesundwerden regelrecht zwingen? Die Placebo-Forschung neigt inzwischen dazu, die Frage zu bejahen, so wie sie neuerdings überhaupt dazu neigt, dem Geist und dem Willen beträchtliche Wirkkräfte und geradezu Führungsrollen im psychosomatischen Zusammenspiel des Organismus zuzutrauen. "Geräte werden in der Medizin bald nur noch Statisten sein", meinte hoffnungsfroh ein Teilnehmer des Tutzinger Placebo-Kongresses. Sein Wort in Gottes Ohr, schon der Kostensenkung wegen.


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