© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/07 07. Dezember 2007

Vorwissenschaftliches Weltbild und irrationale Prinzipien
Und trotzdem ein evolutionäres Erfolgsmodell: Eine Analyse des oft umstrittenen Heilsystems Homöopathie
Oliver Busch

Weist der Zeithistoriker in der Regel auf die Weltwirtschaftskrise vom Oktober 1929, wenn er Umbrüche und Katastrophen der Zwischenkriegszeit auf einen Punkt konzentrieren möchte, hat es der Medizinhistoriker nicht so leicht. Denn er hat es eher mit einer schwelenden, chronischen Krise zu tun, die an in einer unübersichtlichen Vielzahl von Symptomen festzumachen ist. Bereits vor 1914 war die Skepsis gegenüber einem Verständnis von "Krankheit" gewachsen, wie es die bis dahin dominierenden, die "Fortschritte der modernen Medizin" seit Rudolf Virchow und Robert Koch bewirkenden Disziplinen der Zellularpathologie und Bakteriologie vermittelten.

Für Virchow war die Zelle der Ort der Krankheitsentstehung. Die Krankheit war entweder eine lokale Störung, zu beheben durch einen Eingriff, oder - nach dem bakteriologischen Modell - sie beruhte auf einer exogenen Ursache, einem zu exterminierenden Bazillus. Um 1900 stießen diese Modelle aber an diagnostische und therapeutische Grenzen. Stoffwechselerkrankungen rückten in den Vordergrund des Interesses, die nicht simpel zu lokalisieren waren. Seuchen ließen sich nicht allein durch die Bekämpfung der Erreger "ausrotten", vielmehr entschied auch das "Milieu", das ihre Ausbreitung förderte, unter sozialen und ökonomischen Aspekten über den Erfolg der Gegenmaßnahmen.

Die Betrachtung führte also weg vom kranken Organ und vom kranken Individuum, fort vom "lokalistischen", hin zum funktionellen, sozialen, "ganzheitlichen" Krankheitsverständnis. Fort auch von der nun als mechanisch-analytisch, als "materialistisch" diskreditierten Suche nach chemisch-physikalischen Gesetzmäßigkeiten des Erkrankungsprozesses, hin zur "final-synthetischen" Auffassung des Gesamtorganismus, der selbst nur als Teilfunktion "eines Ganzen" zu begreifen war. Wie der Medizinhistoriker Josef M. Schmidt (München) nun belegt, war damit ein ideales Konjunkturumfeld für die Ende des 19. Jahrhunderts in den USA und in Deutschland schon fallierende  Homöopathie entstanden (Sudhoffs Archiv, 1/07). Das in den 1920er Jahren geschwundene Vertrauen in die naturwissenschaftlich fixierte "Schulmedizin" kam also - und kommt seitdem immer noch - einem "Heilsystem" zugute, das Schmidt für "unvereinbar mit den modernen Naturwissenschaften" erklärt, weil die "Theorie" seines Begründers Samuel Hahnemann (1755-1843) auf einem "vorwissenschaftlichen Weltbild" und "irrationalen Prinzipien" beruhe.

Dem geschäftlichen Erfolg tut solche Kritik indes genausowenig Abbruch wie der selbstbewußten Behauptung im medizinischen Diskurs. Nicht von ungefähr werben Massenblätter wie HörZu (41/07) in redaktionellen Beiträgen kritiklos für Hahnemanns Weisheiten, und nur der Schlußsatz ("Bessern sich die Beschwerden nicht schnell, sollte ein Arzt aufgesucht werden") deutet die von Schmidt markierte Nähe zum Kurpfuschertum an.

Wie Schmidt ebenfalls nachweist, ist es gerade das "permanente Ausweichen einer Festlegung auf verbindliche überprüfbare Hypothesen", die der Homöopathie einen "evolutionären Vorteil" verschafft hat. Denn andernfalls, hätte sie verifizierbare und falsifizierbare Aussagen anzubieten, wäre sie als Heilsystem entweder längst "ausgestorben" oder aber in die akademische Medizin integriert worden. So aber, in ihrer "Unfaßbarkeit", hat sie sich zu allen Zeiten ideologischen Strömungen unterschiedlichster Art anzupassen vermocht, die in der Homöopathie Kristallisationskerne für eigene Gedanken und Wünsche entdeckten - vom bayerischen katholischen Romantiker um 1850 über den spiritistisch angehauchten russischen Adel zu Rasputins Zeiten, von der vom NS-Reichsgesundheitsamt geförderten "Neuen Deutschen Heilkunde" bis zu den Kreisen, die heute aus dem Gemisch von New Age, Buddhismus, Esoterik, Anthroposophie und Veganertum ihren Sinnhaushalt bestreiten. Umfragen zufolge bestehe das Gros der homöopathischen "Konsumenten" derzeit aus "jüngeren, gebildeten Frauen", die auf eine "allgemeine Verbesserung ihrer Wellness hoffen", parallel aber oft auch schulmedizinische Behandlungen weiterführen. Solange über die Akzeptanz dieses Heilsystems auf dem "nachfragegesteuerten medizinischen Markt" eine "Menge von externen Faktoren" wie die weltanschaulichen Konditionierungen nicht nur junger Frauen mitentscheiden, braucht sich die Homöopathie sowenig wie die Astrologie Sorgen darüber zu machen, daß ihr für die inzwischen einen Milliardenumsatz erreichende Produktpalette jemals die Kundschaft ausgehen könnte.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen