© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/07 14. Dezember 2007

Ein deutsches Wunder
Wiederaufbau: In der nationalen Geschichtspolitik werden die Trümmerfrauen nicht gewürdigt
Thorsten Hinz

Die Verkürzung des historischen Wissens und Bewußtseins in Deutschland vollzieht sich in demselben rasenden Tempo, in dem sich seine gefühlte - und wohl auch tatsächliche - Zukunftsperspektive verkürzt. Je unfähiger die Funktionseliten sind, den kannibalischen Sozialstaat, die falsche Zuwanderung oder die Bildungsmisere in den Griff zu bekommen, um so verbissener insistieren sie darauf, daß die real existierende Bundesrepublik die fleisch- bzw. staatgewordene Lehre aus dem Nationalsozialismus darstellt.

Im Zuge dieser Geschichtsdidaktik wird die gesamte deutsche Geschichte zur Vorgeschichte des Dritten Reiches verhunzt, als dessen dialektische Aufhebung und Überwindung die BRD desto strahlender hervortritt. Damit werden auch die besagten Probleme, die sie - sei es aus Blindheit, sei es aus ideologischem Mutwillen - produziert, moralisch geadelt und legitimiert. Umgekehrt gerät, wer das Fehlen ernsthafter Lösungsansätze kritisiert, in den Verdacht des Nazismus. Die Verkürzung des Geschichtsbewußtseins ist mithin ein politisches Machtinstrument.

Es erstaunt daher nicht, daß die Normalisierungshoffnungen, die sich an den allgemeinen Frohsinn während der Fußballweltmeisterschaft 2006 knüpften, enttäuscht wurden. Warum, so wird nun wieder gefragt, geht vom Wirtschaftswunder nach dem Krieg keine inspirierende und mythenbildende Kraft mehr aus? Und warum wird der Anteil der Trümmerfrauen am Wiederaufbau nicht gewürdig? Als die JUNGE FREIHEIT jetzt dazu aufrief, Erlebnisberichte aus dieser Zeit einzuschicken, stellte sie fest, daß diese kollektiven Mühen meistenteils unbedankt geblieben sind - materiell sowieso, aber auch moralisch. Schlimmer noch: Der Versuch, die damals erbrachten Aufbauleistungen angemessen zu archivieren, kam bereits zu spät. Woher diese Gleichgültigkeit von Staat und Gesellschaft, woher das Desinteresse an positiven Identifikationsmustern? Woher das Sträuben gegen die Normalität?

Vor allem duldet der Holocaust, der mittlerweile als Gründungsmythos der Bundesrepublik eingeführt ist, keinen anderen Mythos neben sich. Was als "Zivilisationsbruch" die Geschichte in ein Davor und ein Danach einteilt, beansprucht damit automatisch eine absolute Exklusivstellung. Ein zweiter oder dritter Gründungsmythos würde sie logischerweise aufheben. Unter diesen Umständen kann es in Deutschland überhaupt keinen umfassenden Gründungs- und Identitätsbezug, der positiv wäre, mehr geben.

Im Zuge dieser Geschichtspolitik wird das deutsche Wirtschaftswunder primär auf den Marshallplan zurückgeführt: Es ist sozusagen das Geschenk aus Übersee, das man sich nachträglich erst noch verdienen muß. Nun war der Marshallplan in der Tat eine unverzichtbare Weichenstellung und ein Wunder an politischer und humanitärer Einsicht, erst recht, wenn man ihn an Versailles 1919 und am Über-Versailles von Jalta und Potsdam mißt. Trotzdem und vor allem war der Wiederaufbau eine deutsche Leistung. Das zeigt ein simpler Zahlenvergleich: Großbritannien erhielt 3,6 Milliarden Dollar, Frankreich 3,1 und Italien 1,6 Milliarden. Mit 1,4 Milliarden Dollar nimmt sich die an Deutschland überwiesene Summe bescheiden aus. Schließlich waren die Zerstörungen hier am heftigsten, hatte das Land enorme Reparationen und Besatzungskosten zu leisten, Demontagen zu ertragen und nebenher noch Millionen unversorgter Flüchtlinge und Vertriebene aufzunehmen. Trotzdem zog Deutschland in kurzer Zeit in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht an den meisten westeuropäischen Ländern vorbei. Darin zeigte sich noch einmal ein besonderes Ingenium dieses Landes und sein Mut der Verzweiflung - aber Mut immerhin!

Der relative Erfolg der Bundesrepublik stützt sich also auf Eigenschaften und Sekundärtugenden, die sich lange vor der Staatsgründung von 1949 herausgebildet hatten. Der dezidierte Bezug auf das Wirtschaftswunder würde das offiziöse, manichäische Bild von der deutschen Geschichte aufsprengen und zugleich das Ideologem einer von den Alliierten geschenkten "Stunde Null" relativieren. Damit ist klar, warum er nicht stattfinden wird!

Weitere Gründe kommen hinzu: Die Trümmerfrauen sind die Kronzeuginnen eines als schandbar empfundenen Daseins in einer Trümmerwelt. Diese Abkunft ist ein Stachel, aus dem sich nicht einmal jener Schuldstolz ableiten läßt, der heute das Herzstück bundesdeutschen Selbstverständnisses bildet. Als 2004 in Köln über ein Trümmerfrauen-Denkmal diskutiert wurde, warnten die Grünen vor einer "Verklärung der Geschichte". Es müsse erst nachgeforscht werden, "ob unter den Trümmerfrauen, die Köln wieder aufgebaut haben, nicht auch solche gewesen sein könnten, die in der Nazi-Zeit Täterinnen waren". Es wäre eine interessant Frage, wieviel potentielle NS-Täterqualität in dieser Infamie liegt (von der historischen Dummheit gar nicht zu reden). Daneben kommt eine typische Erben-Mentalität zum Vorschein, die den eigenen Unwert im Vergleich zur Lebensleistung der Vorgängergeneration durchaus wahrnimmt, um ihn anschließend durch deren moralische Abwertung zu kompensieren.

Unterdessen stoßen neue Kräfte in das Identitätsvakuum. Im November 2006 überraschte der Chef des Essener Zentrums für Türkeistudien, Faruk Sen, die Öffentlichkeit mit der Nachricht: "Der deutsche Wiederaufbau war eine gemeinsame Leistung. Wenn wir 2011 auf ein halbes Jahrhundert türkische Migration nach Deutschland zurückblicken, so hoffe ich, daß wir diese dann tatsächlich als gemeinsame Geschichte begreifen."

Das ist zwar faktischer Unsinn, denn als 1961 das Anwerbeabkommen zwischen der BRD und der Türkei vereinbart wurde, war der Wiederaufbau abgeschlossen, aber da die nachgewachsenen Deutschen es selber nicht besser wissen, wird er sich durchsetzen: eine weitere Umdeutung und Verkürzung der Vergangenheit, in der sich die Zukunft ankündigt!


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