© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/08 04. Januar 2008

Eine Streitschrift wider den Zeitgeist
Wirtschaftspublizistik: Die derzeitige Finanz- und Sozialpolitik in Deutschland hemmt das Wirtschaftswachstum
Jens Jessen

Wilhelm Hankel klagte 1997 - zusammen mit seinen Professoren-Kollegen Wilhelm Nölling, Karl Albrecht Schachtschneider und Joachim Starbatty - beim Bundesverfassungsgericht gegen den Vertrag von Amsterdam zur Einführung des Euro. Karlsruhe entschied bekanntlich anders, und seit 2002 wird auch in Deutschland mit Euro bezahlt. Doch ihre Befürchtungen sind dennoch Realität geworden - auch wenn der Euro am 27. November vergangenen Jahres mit knapp 1,49 US-Dollar seinen bisherigen Höchstkurs erreichte.

Hankel rechnet in seinem neuen Wirtschaftskrimi über die "Euro-Lüge" mit den Märchenerzählern in Deutschland ab. Die politische Führung verweist auf die Erleichterung für die Verbraucher in den Euro-Ländern, weil sie beim Einkauf keine Währungsumrechnungen mehr benötigen. Daß die reale Inflation im Euro-Raum explodiert, gleichzeitig die Globalisierung Arbeitsplätze, Einkommen und Vermögen vernichtet und die Sozialleistungen abgebaut werden, sind für die politische Klasse hingegen unabwendbare Schicksalsschläge, an denen sie nichts ändern kann. Der Frankfurter Geld- und Kreditexperte prangert die Inkompetenz der Politiker an, die Stagnation und Massenarbeitslosigkeit in Deutschland nicht in den Griff bekommen, obwohl ausreichende Mittel für den Anschub der Konjunktur und der Beschäftigung vorhanden sind. Seine Diagnose trifft den Kern: "Die globalisierte Wirtschaft bezahlt dem Faktor Kapital zuviel, dem Faktor Arbeit zuwenig."

Die gesetzliche Rente als Stabilisierungsfaktor

Der Bismarcksche patriarchalische Sozialstaat war noch ein Gutsherrenmodell, ein ideales System, solange die Rente nicht lange in Anspruch genommen wurde. Verbesserte medizinische Versorgung führte zu höherer Lebensdauer und längerem Rentenbezug. Heute ist die Bemessungsgrundlage für die Finanzierung des Rentenbezugs zu klein geworden. Hankel stellt zu Recht die Frage, warum die willkürliche Einkommensgrenze der Versicherungspflicht nicht schon längst gekippt wurde und warum nicht 100 Prozent der in Deutschland geschaffenen Bruttoeinkommen für die Finanzierung der sozialen Altersrente herangezogen werden statt der heute 60 Prozent.

Die derzeitige Lösung teile die Bevölkerung in zwei Erwerbspersonen-Klassen: in sozialversicherte Rentner und privatversicherte Exklusivrentner. 90 Prozent der Bevölkerung sind erheblich mehr gefährdet als die 10 Prozent, die über rund 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verfügen. Nach Hankels Überzeugung wird es dringend Zeit, ein sozial und politisch stabiles System zu finden, in das auch die genannten 10 Prozent solidarisch eingebunden sind.

Dabei darf es sich nicht um ein kapitalgedecktes Rentensystem handeln, da dieses viel zu stark von nominalen Kapitalwertschwankungen abhängt. Die beitragsfinanzierte Einkommens­umverteilung dagegen bleibt wesentlich zukunftssicherer. Das Finanzierungspotential des deutschen Sozialstaats ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Das betrifft die Beitragsgrundlagen genauso wie die Tarifgestaltung, die Leistungshöhe und die Leistungsdauer. Auch die Rentendauer und -höhe lassen sich verändern und den gesellschaftlichen Umständen anpassen, so Hankel.

Die Erweiterung der Bemessungsgrundlage durch die Einführung der Rentenversicherungspflicht für alle in Deutschland lebenden Einkommensbezieher (aus Arbeits-, Gewinn- und Kapitaleinkommen) würde die Durchschnittsbelastung für den Einzahler in die Rentenversicherung gegenüber heute halbieren. Es sollte endlich davon abgegangen werden, von den Kosten des Rentensystems zu sprechen. In der volkwirtschaftlichen Betrachtung bleiben die Renten als Einkommen und Nachfrage in anderen Händen erhalten. Hankel bedauert deshalb, daß die "Kreis­laufneutralität" sozialer Leistungen bei den Überlegungen von Ökonomie und Politik ein Schattendasein friste.

Im Gesundheitswesen steht die Nichtbeachtung der Kosten als Einkommen in höchster Blüte. Ursache dafür ist die Anwendung betriebswirtschaftlicher Maßnahmen auf die Volkswirtschaft. Schon Paul A. Samuelson, Ökonomie-Nobelpreisträger, hat davor gewarnt, Rezepte der Mikroökonomie (Betriebswirtschaft) auf die Makroökonomie (Volkswirtschaft) zu übertragen.

Das Gesundheitswesen als Wachstums-Katalysator

Genau das aber tut die "neoliberale" Politik in Deutschland. Eine Firmensanierung erfordert ein hartes Kostenmanagement. Kosten müssen gesenkt werden, damit die Firma überlebt. Für die Volkswirtschaft sind Kosten identisch mit Einkommen Dritter. Sie müssen als Alimentierung von Nachfrage und Märkten nach Ansicht von Hankel gesteigert werden, da sonst der Volkswirtschaft Einkommen und Nachfrage entzogen werden.

Ebendies aber geschieht durch die Kostendämpfungspolitik im Gesundheitswesen. Sie ist nichts anderes als Einkommensvernichtung bei den Leistungserbringern und damit Wegfall von Nachfrage auf allen Märkten. Die Ökonomen beschwören die Wandlung zu einer Dienstleistungsgesellschaft als Voraussetzung für Beschäftigung und wirtschaftliches Wachstum. Gleichzeitig fördert die Politik durch eine rigide Rationierung im Dienstleistungsmarkt Gesundheitswesen die Stagnation und Krise in der Volkswirtschaft. Ein Umsteuern ist nötig. Der Gesundheitsmarkt ist in einer entwickelten und alternden Gesellschaft der größte und dynamischste Dienstleistungsmarkt. Er bietet Platz für Millionen neuer Arbeitsplätze in Krankenhäusern, Arztpraxen oder Rehakliniken, die neues Einkommen schaffen, das als Katalysator für eine Wachstumsdynamik der Wirtschaft wirkt. Je älter die Menschen werden, desto mehr medizinische Versorgung ist erforderlich. Je schneller der medizinische Fortschritt neue Behandlungsmöglichkeiten produziert, desto länger können die Menschen leben.

Eine Politik, die mit hehren Worten für den medizinischen Fortschritt eintritt und gleichzeitig die Voraussetzungen für ihn durch Kostendämpfung verhindert, ist unglaubwürdig und wachstumsfeindlich. Deshalb schlägt Hankel vor, daß alle Erwerbstätigen in Deutschland per Gesetz verpflichtet werden, eine Krankenversicherung ihrer Wahl abzuschließen. Der Gesetzgeber soll den Rahmen für die zu zahlenden Tarife vorgeben und die Mindeststandards für den Leistungsumfang der Versicherungen festlegen. Wenn alle krankenversichert sind, läßt sich das Tarifsystem auch familienfreundlich und sozial austariert gestalten.

Wilhelm Hankel: Die Euro-Lüge und andere volkswirtschaftliche Märchen. Amalthea Signum Verlag, Wien 2007, gebunden, 248 Seiten, 19,90 Euro


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