© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/08 04. Januar 2008

Wider die Entfremdung des Menschen
Am 5. Januar 1968 wurde der Stalinist Novotny vom Reformer Alexander Dubcek abgelöst / Der Beginn des "Prager Frühlings"
Thorsten Hinz

Die Dogmatiker in der DDR und im übrigen Ostblock wußten genau, bei welcher Gelegenheit die Saat des Übels, des "Prager Frühlings" nämlich, gelegt worden war: bei der Kafka-Konferenz in Liblice bei Prag, zu welcher der Germanist Eduard Goldstücker im Mai 1963 marxistische Philosophen und Literaturwissenschaftler aus Ost und West geladen hatte. Zentrales Thema war Kafkas Darstellung der Entfremdung des Menschen und einer allgewaltigen, ihre Entscheidungen nicht begründenden Bürokratie.

Es handelte sich, wie unschwer zu erkennen war, um eine metaphorische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus. Aus der DDR nahm eine fünfköpfige Delegation teil, an der Spitze die Grande Dame des Schriftstellerverbandes, Anna Seghers, nebst vier jungen Wissenschaftlern. Während Seghers nur am ersten Tag anwesend war und sich ausschwieg, bestritten die anderen DDR-Teilnehmer die Relevanz Kafkas für die sozialistische Gesellschaft und isolierten sich damit völlig. Später gehörten sie zur Creme der DDR-Germanistik. Man darf annehmen, daß sie politische Instruktionen befolgten. Tatsächlich wurden sie danach von hoher Stelle gelobt, weil sie "ein gutes Beispiel für die Reife und Entschiedenheit des marxistischen Denkens in unserer Republik" gegeben hätten.

Eine Art sozialistische Marktwirtschaft angestrebt

Woher kam die politische Brisanz eines philosophischen Problems? Der Begriff "Entfremdung" bezeichnet laut dem "Kleinen Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie" (Ost-Berlin 1966/84) "ein gesellschaftliches Verhältnis, in dem die Menschen von den durch ihre eigene Tätigkeit geschaffenen Produkte, Verhältnissen und Institutionen als ihnen fremden und über ihnen stehenden Mächten beherrscht werden, deren blindem bzw. willkürlichem Wirken unterworfen sind". Die allgemeinste Grundlage dafür sei das Privateigentum an Produktionsmitteln, das eine bewußte und planvolle Regulierung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zulasse. Folglich könnten die Menschen ihre Produkte und die Folgen ihrer eigenen gesellschaftlichen Tätigkeit nicht beherrschen. Erst im Sozialismus würde die Entfremdung durch die Bewußtheit und Planmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung aufgehoben. Die dafür notwendigen Einsichten verkörperten die marxistisch-leninistische Partei und ihre Philosophie. Damit ist klar: In dem Moment, wo die Partei selbst als eine Institutionen der Entfremdung beschrieben wird, erscheint ihre Herrschaft nicht mehr geschichtsphilosophisch legitimiert, sondern lediglich als eine unverhüllte Diktatur, gegen die Auflehnung und Widerstand berechtigt sind. Es waren also tatsächlich hochpolitische Dinge, die in Liblice diskutiert wurden. Aus ihrer Sicht taten die SED-Dogmatiker ganz recht daran, den Anfängen zu wehren!

In der Tschechoslowakei dagegen köchelte die Diskussion weiter, vor allem in Literarny Noviny, der Zeitung des Schriftstellerverbandes, die in einer Auflage von 140.000 Exemplaren erschien. Es gab vielerlei Druck und Maßregelungen gegen die Redaktion, doch interessanterweise wurde die Zeitung nicht verboten oder zwangsverwaltet. Das verweist darauf, daß die Kommunistische Partei keinen monolithischen Block mehr darstellte. Es gab in ihr eine starke Fraktion von Reformkräften, die erkannt hatten, daß sie mit der Planwirtschaft nach sowjetischem Muster unrettbar ins ökonomische Hintertreffen gerieten und die deshalb eine Art sozialistische Marktwirtschaft anstrebten. Vorsichtigere, tendenziell jedoch ähnliche Bestrebungen gab es nach dem Mauerbau auch in der DDR, angeführt durch den Wirtschaftsexperten Erich Apel, der einst mit Werner von Braun an der V-Waffe gebastelt hatte. 1965 wurden diese Versuche nach Denunziationen Erich Honeckers, der seine Kronprinzenrolle gefährdet sah, von der Sowjetunion gestoppt.

Den Prager Wirtschaftsreformern war klar, daß eine Liberalisierung, wenn sie Erfolg haben sollte, sich nicht auf die ökonomische Sphäre beschränken ließ. Im Juni 1967 kam es auf dem Kongreß des Schriftstellerverbandes - sein Präsident hieß Eduard Goldstücker - zu lautstarkem Widerspruch gegen den Auftritt von Parteifunktionären. Die KP erschien nicht mehr sakrosankt. Im Oktober wagten Studenten den offenen Protest gegen ihre Wohnsituation. Er wurde gewaltsam unterdrückt, doch mußte Parteichef Antonin Novotny dafür im Zentralkomitee der Partei herbe Kritik einstecken.

"Sozialismus mit menschlichem Antlitz"

Der konservative Parteiflügel verlor an Boden, und am 5. Januar 1968 wurde der Stalinist Novotny vom Reformer Alexander Dubcek abgelöst. Der "Prager Frühling" begann. Im Februar wurde die Pressezensur aufgehoben, im April ein Aktionsprogramm der KP verabschiedet, das Veränderungen in Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft proklamierte. Das Wort vom "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" machte die Runde.

Am 27. Juni 1968 veröffentlichte der Schriftsteller Ludvik Vaculik das "Manifest der 2.000 Worte", zu dem er von einer Gruppe von Wissenschaftlern angeregt worden war. Es sollte die Öffentlichkeit kurz vor den Regionalwahlen gegen die Stalinisten in der KP aufrütteln. Darin hieß es: "Für den heutigen Zustand sind wir alle verantwortlich, mehr freilich aber die Kommunisten unter uns." Das Manifest warf ihnen den "Ruin unserer Wirtschaft" und "Verbrechen an unschuldigen Menschen" vor und forderte den "Rücktritt jener Leute, die ihre Macht mißbraucht haben, die das öffentliche Eigentum geschädigt haben, die ehrlos und grausam gehandelt haben. Es ist jetzt notwendig, Methoden zu entwickeln, um sie zum Rücktritt zu zwingen: Zum Beispiel durch öffentliche Kritik, Resolutionen, Demonstrationen, Streik und Boykott." Das war eine offene Kampfansage, die große Resonanz fand.

Die Drohung einer russischen Intervention wie 1956 in Ungarn schwebte von Anfang an über dem Experiment. Auch Staats- und Parteichef Walter Ulbricht drängte dazu. Mochte er für die Wirtschaftsreformen noch Verständnis haben, die politischen Veränderungen und ihre mögliche Vorbildwirkung für die DDR - gerade die Kinder hoher SED-Kader waren vom "Prager Frühling" fasziniert - fürchtete er. Zu Recht, denn es war nicht von der Hand zu weisen, daß die Entwicklung, wenn sie so weiterging, die staatliche Existenz der DDR gefährdete.

Im Januar 1967 hatte die Bundesregierung mit Rumänien die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vereinbart. Damit durchlöcherte sie zwar die Hallstein-Doktrin, wonach Bonn keine Beziehungen zu Staaten unterhielt, die die DDR diplomatisch anerkannten, doch im Gegenzug hatte Rumänien die heftig umkämpfte Berlin-Klausel (die relative Zuständigkeit des Bundes für West-Berlin) akzeptiert und nicht einmal auf der Anerkennung der DDR durch Bonn bestanden. Damit war ein hochgefährlicher Präzedenzfall geschaffen worden. Würden jetzt Prag und anschließend Budapest und gar noch Warschau an Ost-Berlin vorbei Kontakte zur wirtschaftlich potenten Bundesrepublik knüpfen, dann geriete die DDR auch innerhalb des Ostblocks in die Isolation.

Im August 1968 erfolgte die Invasion und war es mit solchen Gedankenspielen vorbei. Sollte es jemals eine Chance für einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" gegeben haben, so war sie hiermit gestorben. Die Sowjet­union handelte nach der Logik einer Großmacht, die ihr einmal gewonnenes Herrschaftsgebiet nicht antasten ließ. In der Tschechoslowakei breitete sich unter dem Schlagwort "Normalisierung" eine allgemeine, bedrückende Lethargie aus. Milan Kunderas Roman "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" gibt eine anschauliche Vorstellung davon.

Prag 1968 wurde ein Symbol für die Herausforderung

Der Kafka-Experte Eduard Goldstücker galt nun als ein Hauptfeind und emigrierte. In der DDR veröffentlichte Anna Seghers 1973 die Erzählung "Reisebegegnung", in der Kafka sich mit Gogol und E.T.A. Hoffmann in einem Dresdner Café trifft. "Vielleicht spürt man in allem, was ich schreibe, etwas von der Qual, von der Unsicherheit, von den Zweifeln, die eine Zeitwende im Menschen erregt, und auch meine eigene Todesangst", heißt es da. War das nun eine nachgereichte Kritik am siegreichen Stalinismus? Egal, Gogol und Hoffmann reisen ab, und Kafka zahlt die Zeche. Im Frühjahr 1989 erschien Christoph Heins Roman "Der Tangospieler" über einen jungen Leipziger Universitätsdozenten, der wie weiland Franz K. in die Mühlen einer undurchschaubaren, politischen Justiz gerät. Im übrigen erinnert der Roman, der mit Fernsehbildern vom russischen Einmarsch in Prag 1968 endet, an den "Fremden" von Camus. Bereits die Tatsache, daß die DDR-Zensur das Buch hatte passieren lassen, war für den Leser ein Zeichen, daß der Staat ratlos war und die Partei an ihre Mission wider die Entfremdung des Menschen nicht mehr glaubte.

Foto: Präsident Ludvik Svoboda, Alexander Dubcek, Erster Sekretär der KP, und Frantisek Kriegel, ZK-Vorsitzender der Nationalen Front, Prag am 1. Mai 1968: Offene Kampfansage mit großer Resonanz


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