© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/08 11. Januar 2008

Zum Weltmarkt durch Weltmacht
Verzweiflung statt Donnerhall: Zu den politischen Vorstellungen Gustav Stresemanns vor 1914
Dag Krienen

Gustav Stresemann (1878-1929) gilt in der öffentlichen Erinnerung als die "Lichtgestalt" unter den deutschen Politikern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die bereits in den zwanziger Jahren die Außen- und zeitweise auch die Gesamtpolitik Deutschlands in einer Weise führte, wie sie dem heute propagierten Ideal entspricht: demokratisch, friedensorientiert, auf europäische Kooperation bedacht und auf die wirtschaftliche Potenz Deutschlands vertrauend.

Die umfangreiche wissenschaftliche Forschung über Stresemann zeichnet zwar kein ganz so makelloses Bild, sondern hat unter anderem auf die nationalistische Grundhaltung des nationalliberalen Politikers und industriellen Interessenvertreters während des Ersten Weltkrieges hingewiesen. Das als Dissertation bei Klaus Hildebrand in Bonn entstandene Buch Thomas H. Wagners über "Gustav Stresemann und die Außenpolitik des Kaiserreichs bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs" weist nun auch nach, daß Stresemann bereits vor 1914 ein ganz anderes Ideal deutscher Politik entwickelt hatte, als es heute mit seinem Namen verbunden wird. Er befürwortete eine deutsche Großmachtpolitik klassischen Stils, unter Einschluß militärischer Drohgebärden, die eine Weltmachtstellung des Reichs im Sinne einer gleichberechtigten Teilhabe an der expandierenden Weltwirtschaft durchsetzen sollte, um, ob in "Krieg oder Frieden, unseren Platz an der Sonne" zu behaupten.

Wagner ist als ehemaliger Direktionsassistent im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn mit den heutigen volkspädagogischen Notwendigkeiten vertraut genug, um in seinem Schlußwort nicht zu versäumen, einen "Rest an Abscheu" zu bekunden "angesichts der frivolen Arroganz und Ignoranz, mit der Stresemann die Realitäten der Weltpolitik verkannte, die Kräfte des Reiches überschätzte und damit seine Existenz aufs Spiel setzte".

Ein solches forsches moralisches Urteil überrascht indes ein wenig am Ende eines Buches, das die Genese der politischen Ansichten Stresemanns vor 1914 insgesamt fair und ohne den Gestus der moralischen Empörung nachzeichnet. Wagner unterstreicht beispielsweise die deutliche Distanz zu den Alldeutschen: "Gustav Stresemann blieb bis zum Kriegsausbruch 1914 im Kern seines Wesen ein 'Normal-Nationalist', der zwar alle politischen Fragen zuerst nach ihrem nationalen Gehalt beurteilte, sich dabei aber nicht als überzeugter Antisemit, Rassist, 'Sozialistenfresser' oder Annexionist in Mitteleuropa hervortat."

Doch gelingt es Wagner nicht, wirklich nachzuvollziehen, warum der ursprünglich eher linksliberale junge Stresemann immer mehr dazu neigte, neben der Notwendigkeit der Freiheit im Inneren vermehrt auch die der nationalen Machtentfaltung nach außen zu betonen. Ihm kommt es offensichtlich gar nicht in den Sinn, daß der allmähliche Wandel von einer Priorität der Weltwirtschaft zu einer Priorität nationaler Machtpolitik als Voraussetzung für eine starke Stellung in der Weltwirtschaft, wie er sich im Denken Stresemanns in den Jahren vor 1914 vollzog, nicht nur "mentalitätsgeschichtliche", sondern auch sachliche Gründe gehabt haben könnte.

Liest man das Buch Wagners gegen den Strich seines Schlußurteils, stellte sich das zentrale politische Problem Deutschlands für den jungen Stresemann offensichtlich so dar: Nach 1871 war es ein Staat mit ständig wachsender Bevölkerung auf Basis einer gewaltig expandierenden Industrie geworden, was jedoch nur funktionieren konnte, wenn seine Wirtschaft sich immer neue Absatzmärkte und Rohstoffquellen erschloß. Ein wirklich freies Welthandelssystem hätte dazu an sich genug Möglichkeiten geboten. Drohte aber dem kolonialarmen Deutschland der Marktzutritt zu weiten Regionen der Erde durch die politische Macht konkurrierender Staaten in deren formalen und informalen Kolonialgebieten erschwert oder verunmöglicht zu werden, stellte dies sofort eine nationale Existenzbedrohung dar.

Allmählich kam Stresemann offensichtlich zu der Überzeugung, daß der freie Zutritt zum Weltmarkt für eine große Industriemacht keine Selbstverständlichkeit war, sondern in der damaligen Situation der machtpolitischen Absicherung durch einen starken Staat und eine entsprechende Außenpolitik bedurfte. Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, daß Großbritannien die damals bei weitem größte Kolonialmacht und zugleich der wichtigste ökonomische Konkurrent war, wird zumindest verständlich, warum Stresemann schließlich auch die Tirpitzsche Flottenrüstung als ein zentrales Element einer auf Sicherung der weltwirtschaftlichen Lebensinteressen Deutschlands abzielenden Außenpolitik guthieß.

Vor allem seit der zweiten Marokko-Krise von 1911 wuchs zudem seine Überzeugung, daß es in der britischen Politik Tendenzen gab, Deutschland von wichtigen Bereichen des Weltmarktes durch politische Maßnahmen fernzuhalten und so seine ökonomische und nationale Entwicklung zu verkrüppeln. Dies galt es um jeden Preis zu konterkarieren, um Deutschlands in seinen Augen existenznotwendigen Platz an der weltwirtschaftlichen Sonne zu verteidigen, notfalls unter Inkaufnahme des Risikos eines Krieges mit Großbritannien. "Krieg oder Frieden" stellte somit aus der Perspektive Stresemanns mitnichten ein "frivole" Parole dar, sondern war eher Ausdruck einer verzweifelten Situation.

Im nachhinein kann man sicherlich bezweifeln, ob Stresemanns Einschätzung der Lage des Reiches vor 1914 zutreffend war. Sein Grundaxiom, daß der Weltmarktzutritt keine Selbstverständlichkeit darstellte, sondern machtpolitisch - und das hieß damals: notfalls auch mit militärischen Mitteln - abgesichert werden mußte, entsprach hingegen durchaus den weltpolitischen Realitäten vor 1914. In einer von mehreren Großmächten mit umfangreichem Kolonialbesitz getragenen Weltsystem stellt sich die Frage der Garantie des freien Zutritts zum Weltmarkt eben grundlegend anders dar als in einer von einem einzigen "wohlwollenden" globalen Hegemon geprägten Situation. Die nüchterne Feststellung, daß es ohne garantierende Macht so etwas wie einen "freien Markt" gar nicht geben kann, mag zwar dem Zeitgeist nicht sehr angenehm sein, kann aber ernsthaft nur mit einem erheblichen Aufwand an frivoler geistiger Arroganz und Ignoranz bestritten werden.

Thomas H. Wagner: "Krieg oder Frieden. Unser Platz an der Sonne". Gustav Stresemann und die Außenpolitik des Kaiserreichs bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs aus Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2007, gebunden, 234 Seiten, 39,90 Euro

Foto: Gustav Stresemann um 1910: Gleichberechtigte Teilhabe an der expandierenden Weltwirtschaft

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