© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/08 18. Januar 2008

Pankraz,
W. I. Lenin und der Akademikermangel

Pankraz hält nicht viel von Zukunftsprognosen, weil in der Regel immer etwas dazwischenkommt, das die schönste Voraussage blamiert. Wenn aber faktisch sämtliche Experten prophezeien, daß in spätestens fünf Jahren in Deutschland über 500.000 Akademiker fehlen werden, erstklassige Fachkräfte jeglicher Art, Mediziner, Laborchemiker, Diplomingenieure, dann läßt sich ein Gefühl von Panik nicht unterdrücken, untermischt mit Zorn. Wie kann so etwas passieren? Wer ist dafür verantwortlich?

Es kann ja nicht an Nachwuchsmangel liegen, denn die Universitäten sind bis oben hin angefüllt und überfüllt mit Studenten, unter ihnen zweifellos auch dieses und jenes künftige Genie. Auch schlechte Qualität hiesiger Lehre und Ausbildung kommt kaum als Ursache in Frage, bei aller Skepsis gegenüber neudeutschen Lehrstandards. Denn immerhin verlassen Jahr für Jahr Tausende frisch diplomierter deutscher Akademiker das Land, um in den USA, in Australien, Kanada, Neuseeland, sogar in England einen Job zu suchen - sie werden dort mit Kußhand genommen, gelten als erstklassig und verdienen schnell gutes Geld.

Die Wahrheit ist: Die Bundesrepublik Deutschland vergrault systematisch ihre eigenen jungen Eliten, stößt den eigenen Akademikernachwuchs ab, um Platz zu schaffen für Fachkräfte aus Indien, Taiwan, Brasilien, welche hektisch umworben werden und denen man goldene Brücken baut. Da aber auch die Inder lieber nach Amerika oder Australien gehen, die Immigration nach Deutschland ausschließlich aus schlecht ausgebildeten Nichtakademikern und sonstigen Angehörigen der Unterschicht besteht, entsteht ein saugender "braindrain", ein ständiger Abfluß von Intelligenz, Kompetenz und Fachwissen.

Diejenigen unter den Regierenden, die das Problem wenigstens wahrnehmen, glauben in der Regel, es handle sich um reine Geldangelegenheiten. So basteln sie ein bißchen an neuen Finanzierungsmodellen, leiten Geldströme um, stellen staatliche Unterstützung für Stipendien und Ausbildungsplätze in Aussicht - und ignorieren glatt, daß die Misere geistige Wurzeln hat, daß es sich um nichts geringeres als um eine Krise des nationalen Selbstbewußtseins handelt.

Sicher, der promovierte Krankenhausarzt, der für hochqualifizierte, aufopferungsvollste Schwerarbeit einen Lohn am Rande des Existenzminimus einheimst, der Laborchemiker ohne ordentlichen Vertrag und die vielen diplomierten, verzweifelt eine Stelle suchenden Angehörigen der Generation Praktikant hierzulande, sie müssen finanziell dauerhaft in bessere Position gebracht werden. Möglich wird das jedoch nur, indem sich Politik, Bürokratie und Industrie endlich von gewissen eingeschliffenen Denkmustern befreien, die alle in die falsche Richtung weisen.

Wer, um gewählt zu werden und/oder ins Fernsehen zu kommen, immer nur der Masse nach dem Mund redet, für den reduziert sich das Gedeihen geistiger Eliten auf ein eher lästiges Spezialproblem, das man glaubt, im Nebenher erledigen zu können. Indes, Eliten wollen nicht mit irgendwelchen Etat-Resten "gefördert" werden (schon deshalb nicht, weil sie sich im Zweifelsfall selber fördern, und sei es, indem sie auswandern), sondern es kommt darauf an, ihnen Freiräume zu verschaffen, sie nicht mit Bürokratie zu behelligen, ihnen Respekt zu erweisen.

Nichts davon wird in Deutschland heute mehr ernstgenommen. Die "Exzellenzcluster" und Evaluierungsprozeduren, mit denen die Hochschulbürokratie (in engster Zusammenarbeit mit der Industrie) den Forschernachwuchs neuerdings selektiert, sind eine Frechheit und eine Demütigung für jeden echten Forscher. Ein Elitestandard, der sich einzig danach bemißt, wieviel (in Geld gemessen) ein Mitglied der Elite diesem oder jenem Industriezweig eventuell einbringen kann, ist keiner. Er markiert lediglich den Sieg der Koofmichs über den Geist.

Und außer dem Massengeschmack und der industriellen Verwertbarkeit ist bei uns noch ein dritter Selektionsmechanismus gegen die Eliten wirksam: der berüchtigte Nationalmasochismus der herrschenden Kräfte. Ungebildete Immigrantenmassen genießen beim politisch-medialen Komplex ein prinzipiell höheres Ansehen als der hausgemachte akademische Nachwuchs, und zwar in jederlei Hinsicht, moralisch, ethnisch, was die mediale, fernsehtaugliche "Interessantheit" betrifft. Tief im Inneren hassen sie das eigene Volk, auch und gerade in seinen gutgeratenen Exemplaren, und das lassen sie diese Exemplare spüren.

Wenn sie bei der Selektion schon keinen indischen Informatik-Experten kriegen, dann wählen sie lieber irgendwelche unqualifizierten Immigrantenmassen statt autochthoner Jungakademiker, d.h. die Hauptfinanzströme fließen in Richtung "Integration" der "Migranten", und der "öffentliche Diskurs" nebst rührseligen Fernsehfeatures dreht sich fast nur noch um das "Migrantenproblem". Für die eigenen jungen Ärzte und Ingenieure bleiben - bestenfalls - die vertragslosen Tausend-Euro-Jobs.

Die Ärzte und Ingenieure reagieren darauf mit Auswanderung; was bleibt ihnen anderes übrig? Es findet eine Art Bevölkerungsaustausch von oben nach unten statt. Wohin das letztlich führt, zeigt überdeutlich das Schicksal der bolschewikischen Revolution in Rußland nach 1917.

Unzählige Angehörige der "Oberschicht", darunter bevorzugt Institutsleiter, Forscher, Akademiker, wurden damals einfach totgeschlagen. Revolutionsführer Lenin kam sich äußerst menschlich vor, als er  dem Morden schließlich Einhalt winkte und einen ganzen großen Überseedampfer mit Tausenden "überflüssiger" Intellektueller, darunter Weltberühmtheiten wie Mereschkowski und Bunin, vollstopfen und nach Stettin in Deutschland auslaufen ließ.

Alsbald wunderte man sich in Rußland, daß in der Industrie, in der Versorgung und überhaupt im öffentlichen Leben der Notstand ausbrach. Man hatte seine eigene Elite ausgerottet und wunderte sich nun, daß nichts mehr klappte! Ein Menetekel.

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