© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/08 18. Januar 2008

Schwierige Erbschaften in Preßburg
Die aktuelle Würdigung des slowakischen Politikers Andrej Hlinka knüpft an "vordemokratische" Traditionslinien an
Andrzej Madela

Mit Beginn dieses Jahres trat ein heißumkämpfter und besonders in Tschechien und Deutschland umstrittener Beschluß des Preßburger Parlaments in Kraft. Er betrifft "die Verdienste Andrej Hlinkas bei der Herausbildung staatsgründerischer Fähigkeiten der slowakischen Nation und der slowakischen Republik". Seine Initiatoren - die populistisch-nationale Slowakische Volkspartei (SNS) und die zentrumsorientierte Christlich-Demokratische Bewegung (KDH) - brachten dabei eine Mehrheit von 94 Stimmen auf ihre Seite, während lediglich 24 Abgeordnete im politisch stark zerfurchten Haus dagegen votierten. Die Paradoxie dabei: Auch die gewendeten Reformkommunisten (heute Sozialdemokraten) des Ministerpräsidenten Robert Fico halfen mit, den Antrag durchs Parlament zu forcieren, obwohl man dies von ihnen kaum erwartet hatte. Entgegen der SNS-Vorlage allerdings wurde der Gewürdigte nicht zum "Vater der Nation" erklärt - offensichtlich spielten ungute Erinnerungen an den Tiso-Staat dabei eine Rolle, der Hlinka exakt diesen Titel schon einmal zugesprochen hatte. Das Inkrafttreten des Beschlusses wurde im Ausland mit wacher Aufmerksamkeit begleitet und mit zahlreichen Kommentaren bedacht (aufschlußreich dabei vor allem der Artikel von Piotr Semka in der polnischen PiS-nahen Tageszeitung Rzeczpospolita, erschienen am 5. Januar unter dem Titel "Slowakischer Streit um den 'Vater der Nation'").

Von Anfang an war allerdings auch erkennbar, daß der baldige Einzug des staatlich so Gesalbten ins nationale Pantheon die Gesellschaft spaltet. Noch im Herbst belagerten aufgebrachte Demonstranten das Parlamentsgebäude. Im Land tobte eine Debatte um Hlinkas Nähe zum - noch gut marxistisch benannten - "Klerofaschischmus". Die tschechische Presse wußte vor allem seinen "sezessionistischen" Anteil am Zerfall der Tschechoslowakei in den Vordergrund zu stellen, und die Süddeutsche Zeitung beeilte sich zu versichern, er sei tief in den "braunen" Terror verstrickt und zum "Wegbereiter" der Nationalsozialisten geworden (SZ, 30. Oktober 2007).

An Andrej Hlinka (1864-1938) entzünden sich die Geister. Ist der Priester und langjährige Vorsitzende der Slowakischen Volkspartei (SLS) europatauglich? Für ein Nein sind passende Argumente schnell zur Hand, war der Pfarrer aus Ruzomberok (Rosenberg/Tatra) doch ein Verfechter des ethnisch und religiös einheitlichen Staates und somit kein "lupenreiner Demokrat" - nach heutigem Geschmack. Seine Slowaken sieht er in der k.u.k.-Monarchie bis 1918 einer fortschreitenden Magyarisierung ausgesetzt, danach in die Fesseln eines tschechischen Zentralismus geschmiedet. Zu ganz unguter Letzt: Für Hetze und Repressalien gegen Linke, Liberale, Ungarn und Juden in der Slowakei 1939/45 zeichnen sein Amtsnachfolger Josef Tiso, ferner Vojtech Tuka und Alexander Mach verantwortlich - alle bereits lange vor 1939 prominente Mitglieder der SLS-Führung. Und auch wenn der im August 1938 verstorbene Hlinka selbst nicht für die Untaten des slowakischen Staates namhaft gemacht werden kann, so ist es doch die von ihm bis dahin drei Jahrzehnte lang geführte Partei, die damals die Geschicke des Landes übernimmt.

Vergegenwärtigt man sich allerdings den slowakischen Nachholbedarf an nationalstaatlicher Existenz, werden die oben angedeuteten Identitätskämpfe schneller verstehbar, blicken doch die Slowaken auf ein Jahrtausend staatlichen Nichtvorhandenseins zurück: Seit der Schlacht bei Preßburg 907, wo die Ungarn das Heer des bayerischen Markgrafen Luitpold vernichtend geschlagen haben, stehen sie unter fremder Herrschaft bzw. Herrschaft anderer Völker, zuallermeist der Magyaren. Die große Verheißung einer Autonomie innerhalb der erhofften Tschecho-Slowakei (für die Hlinka selbst mehrere Jahre im ungarischen Gefängnis gesessen hatte) bleibt ein Traum und die Slowaken im neuen Staatsgefüge nach 1918 eine Nation zweiter Klasse.

So bleiben - als Reservoir für eine Rückbesinnung und Traditionsbildung - letztlich die knapp sechs Jahre staatlicher Minimalexistenz im Schatten des Dritten Reiches bis 1945. Für den Nachbarn Tschechien galt das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren nie als politisches Pendant zur Tschechoslowakei der Vorkriegszeit. Für die Slowaken ist die Auswahl schwieriger zu treffen, denn es war eben Hitlers Protektion, die die Gründung einer ersten slowakischen Republik garantierte. In der Dialektik von Unfreiheit, die eine (stark begrenzte) Freiheit gewährt, bewegt sich denn auch die heutige Erbediskussion in der Slowakei. Als sich die Tschechoslowakei am 31. Dezember 1992 auflöste und  die Grenze zwischen Tschechien und der Slowakei gezogen wurde, entsprach diese fast exakt der Grenzziehung zwischen dem Großdeutschen Reich bzw. dem Reichsprotektorat und dem slowakischen Satellitenstaat. Noch meidet sie das heikle Thema Tiso, wenn auch an weißwäscherischen Versuchen diesbezüglich kein Mangel besteht. Um so bedeutender muß nun eine Figur erscheinen, die als Vorläufer der nationalen Selbstbestimmung unbestritten, gleichzeitig aber biographisch durch den Tiso-Staat unbelastet bleibt.

Bald schon, so steht zu erwarten, werden andere Persönlichkeiten dem auf den Staatssockel Beförderten folgen. Da ist zum Beispiel General Jan Golian, bis 1944 treuer Tiso-Soldat und danach Führer des slowakischen Nationalaufstandes; da ist ferner Karol Sidor, Hlinkas kurzzeitiger Amtsnachfolger im SLS-Vorsitz, wegen seiner polenfreundlichen Haltung später entmachtet und auf den Posten eines Botschafters beim Heiligen Stuhl abgeschoben; nicht zuletzt kommt auch General Rudolf Viest in Frage, bis August 1939 Generalinspekteur der slowakischen Armee, anschließend politischer Flüchtling und 1944 - wie Golian - einer der militärischen Oberbefehlshaber des Aufstands.

Doch wie sie auch immer ausfallen mag: Die slowakische Traditionsbildung verdeutlicht ein größeres Dilemma, vor dem auch andere kleine europäische Völker stehen, so etwa die Kroaten, Esten, Letten und Litauer, zum Teil auch die Ukrainer. Deren kurzlebige, aber für die nationale Subjektwerdung eminent wichtige staatliche (Neu-)Gründungen (oder deren Ansätze) haben wesentlich mit dem großen europäischen Umbruch 1939 bis 1941 zu tun, sie sind vielfach Resultat und Widerschein der Verschiebungen in der tektonischen Machtmasse zwischen den zwei Großdiktaturen in Moskau und Berlin. In gewisser Hinsicht verdeutlichen sie - in zeitlich und räumlich äußerst komprimierter Gestalt - das damalige Schicksal Mittel- und Osteuropas überhaupt.

In der slowakischen Suche nach staatlicher Identität gilt das geschichtsästhetische Kriterium nicht: Im Gegensatz zu Polen oder Russen verfügt die kleine Nation nicht über einen diesbezüglich reichhaltigen Bestand, der es erlaubt, aus drei, vier gleichberechtigten Traditionslinien die ihr nun zeitgemäße zu wählen. Der entscheidende Maßstab gilt vielmehr der Bewahrung nationaler Substanz.

Fotos: Staatspräsident Jozef Tiso nach seiner Wahl, 26. Oktober 1939: Nachholbedarf an Nationalem; Andrej Hlinka 1932

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