© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/08 25. Januar 2008

Seltsame Vögel
Berlin: Eine Retrospektive des britischen Fotografen Martin Parr
Bärbel Richter

Jeden Samstag, Jahr für Jahr, ging's zur Kläranlage Hersham. Zur Vogelbeobachtung. Im Plastikbeutel Fernrohr, Ringe, Schreibzeug und ein wenig Proviant. Der kleine Martin mußte immer mit. Wie seltsam und wie abwesend sahen dann die Eltern aus mit ihren ins Unterholz gerichteten Stielaugen aus Metall und Glas. Den tieferen Zusammenhang von Obsession und Monotonie lernte der künftige Fotograf beizeiten erkennen. Auch die Absurdität des Aufbegehrens. Um der ornithologischen Langeweile zu entkommen, verlegte sich der Heranwachsende aufs Trainspotting, das Fotografieren sämtlicher in England verkehrender Lokomotiven. Variationen des Immergleichen. An Motiv und Methode hat sich bis heute wenig geändert.

Der inzwischen 56jährige fotografiert thematische Serien und bringt Fotobuch auf Fotobuch heraus: Serien über Ausflügler und Urlauber, Käufer, Esser und Telefonierer, über absonderliche Speisen und übervölkerte Orte. In Berlin ist ihm jetzt unter dem Titel "Assorted Cocktail" eine Retrospektive gewidmet. Der Titel hält - leider -, was er verspricht. Die Schau ist keine Retrospektive, sondern eine bunte Mischung von Arbeiten aus den Jahren 1983 bis 2003, bei der sich die spärlichen Kommentare der Ausstellungsmacher fast wörtlich auf das beschränken, was man auf Parrs Netzseite auch lesen kann. Ein Katalog fehlt.

Manchen Aufschluß hätte das Frühwerk geben können, in dem Parrs Weg zur Konzeptkunst vorgezeichnet schien. So schuf er unter dem Titel "Home Sweet Home" (1974) eine Serie konstruierter Interieurs, viele mit den für die Epoche charakteristischen üppigen Tapeten mit großblumigem Muster, gelbe und rosa Rosen auf mintgrünem Grund und bodenlange rüschenschwere Goldbrokatkuvertüren, die auf ihre Art Monotonie und Wiederholungszwang thematisieren. Ein Objekt aus dieser Serie zeigte eine Tapete, deren Muster aus langstieligen herabfallenden Rosen besteht, deren realistische Wirkung mittels Schattenzeichnung gesteigert ist. Davor, auf einem Tischchen, eine laszive Glasvase in der Form und Farbigkeit, erneut, einer Rose und darin stehend wieder eine Rose, diesmal eine echte. Ein anderes Objekt zeigt eine Tapete, auf der sich John Constables "Heuwagen" (1821) endlos wiederholt und darüber hängen vier Reproduktionen desselben Werks in vier verschiedenen Größen. Dies ist nicht Zitat; es ist Obsession. Hier hatte Parr etwas entdeckt, vielleicht noch ohne es zu wissen: einen tiefen Zweifel an der Realität, von dem die moderne Massengesellschaft befallen ist, der nur durch obsessive Wiederholung überwindbar scheint. Der Einsicht wird Parr fortan in vielerlei Variationen auf den Grund gehen und sie - wiederholen.

Parr wurde folgerichtig zum Fotografen der Stile. Wo eine Gesellschaft oder eine ganze Welt innerhalb weniger Jahrzehnte den Boden verliert, der sie vielleicht Jahrhunderte trug, wird dieser Verlust als erstes sichtbar in der Irritation des Stils, den Produkten des Alltags. Parr fotografiert obszön glänzenden Bacon, fettstarrende Kringel, kreischend bunt überzuckerte Donuts und Petit Fours, grellfarbene Hemden, Blusen, Brillen, Mützen, brathendlbraune pralle Leiber am Strand. Er fotografiert die Gier am Imbiß, am Büfett und beim Einkaufen: Es sind absurde Versuche, durch maßlose Übertreibung Realität zurückzugewinnen.

Kitsch entsteht auf den Bruchlinien der Epochen, es ist Konservatismus aus Verzweiflung. Zahllose Fotos Parrs, vor allem der englischen Gesellschaft der 1980er zeigen, wie sich soziale und ästhetische Formen des einstigen Empire mit Ausdrucksformen der Massenkultur verbunden haben und Haltung und Haltlosigkeit manchmal in ein und derselben Geste zu finden sind. Selbst Massenansammlungen in Bädern und an Stränden erscheinen nun als Kompensationsphänomen, nicht als Ursache des Wirklichkeitsverlusts.

Dies zu erschließen, leistet das Konzept der Schau, falls es eines gibt, keinen Beitrag. Die Hängung ist offenbar allein durch das Prinzip motiviert, neuere Arbeiten an den Anfang zu setzen und die stärkste und auch älteste Serie, "Last Resort" (Letzte Zuflucht, 1983/1986), im vorletzten Raum zu präsentieren, um den anderen Bildern nicht die Wirkung zu nehmen. Durchdacht ist allein die Hängung der Serie "Bored Couples" (Gelangweilte Paare) am Ende der Ausstellung. Eines der Bilder zeigt den Fotografen selbst mit seiner Frau Susie. Sie sind keineswegs gelangweilt, sie tun nur so. Dasselbe dürfte für die anderen Aufnahmen dieser Serie gelten.

Was, wenn der unerbittliche Realismus der ganzen Schau am Ende eine Täuschung war? Auch diese Pointe wird den meisten, die sich mit Parr vorher nicht eingehend befaßt haben, entgangen sein. Garry Winogrand (1928-1984), ein obsessiver amerikanischer Straßenfotograf, dessen Schaffen Parr stark geprägt haben dürfte, pflegte zu sagen, er fotografiere, um zu sehen, wie die Dinge fotografiert aussehen.

Die Ausstellung der C/O-Galerie ist noch bis zum 2. März im Postfuhramt, Oranienburgerstraße 35-36, täglich von 10 bis 20 Uhr zu sehen. Tel.: 030 / 28 09 19 25

Foto: Martin Parr, West Bay, 1996: Der Fotograf als Vogelsteller

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