© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/08 01. Februar 2008

Die wahren Probleme werden ausgeblendet
Ungarn: Während Deutschland über Migrantenkriminalität diskutiert, erregen die Magyaren ähnliche Probleme mit der Roma-Minderheit
Karl Franke

Am 10. Januar stach ein zwölfjähriger Zigeunerjunge - Deckname "Maugli" - auf einem der belebtesten Plätze in der ungarischen Hauptstadt Budapest einen 15jährigen mit einem Messer nieder - weil dieser sich nicht widerstandslos ausrauben lassen wollte. Der spektakuläre Fall ist nicht der erste dieser Art. In Erinnerung ist eine Messerstecherei in einem Bus, bei der zunächst angenommen wurde, der Täter sei aufgrund seiner Armee-Kleidung ein "Nazi" gewesen - bis sich herausstellte, daß es sich um ein Mitglied der Roma-Minderheit handelte.

Noch grauenvoller war ein Lynchmord in dem ostungarischen Örtchen Olaszliszka. Dort wurde der Lehrer Lajos Szögi von einem aufgebrachten Roma-Mob aus seinem Auto gezerrt und erschlagen, weil er angeblich ein Zigeunerkind angefahren hatte - das kleine Mädchen erlitt jedoch keine Verletzungen. Die Töchter des Lehrers mußten dennoch tatenlos zusehen, wie ihr Vater starb. Gemäß der Anklage, die am 21. Januar verlesen wurde, hatten mindesten acht Personen, darunter eine Frau und zwei Minderjährige, den Lehrer "auf besonders grausame Art" ermordet. Der Hauptangeklagte hat den Mord bereits gestanden. Daß einer der Täter den Mob aufgefordert hatte, auch die Töchter des Opfers zu erschlagen, konnte bisher nicht bestätigt werden.

Die Debatte um jugendliche Straftäter und ihre ethnische Zugehörigkeit ist daher nichts Neues in Ungarn, nach jedem neuen Fall gehen die Emotionen hoch, die Politik verspricht neue Förderprogramme - aber meist geschieht nichts. Für den Durchschnittsungarn ist es die normalste Sache der Welt, daß die "Zigeuner" stehlen, rauben und morden. Die ethnische Minderheit ist im Ansehen und im sozialen Status der Magyaren ganz unten; daran ändern auch die sehr begabten und anerkannten Musiker, Unternehmer und Intellektuellen dieser Ethnie wenig. Sie sind leider die Ausnahmen. Im Falle des Zwölfjährigen sahen sich die Behörden nun genötigt, ein Exempel zu statuieren, nachdem sich Vermutungen bestätigt hatten, daß "Maugli" keine ungarische Staatsbürgerschaft besitzt, sondern aus Rumänien eingewandert war.

Innerhalb einer Woche wurde der Serientäter den rumänischen Behörden übergeben, die ihn anhand seiner Fingerabdrücke identifizieren konnten. Dort wies man "Maugli" in ein Erziehungsheim ein - von wo er innerhalb weniger Tage ausreißen konnte. Der Vater des Kindes, István G., erklärte derweil vor der Presse, sein Sohn sei von der Mafia geraubt worden, als er seine Schwester im siebenbürgischen Bistritz (Beszterce/Bistriţa) besuchen wollte.

In Budapest hatte der Fall ein politisches Nachspiel. Der Vorsitzende der bürgerlichen Roma-Organisation Lungo Drom, Flórián Farkas, erklärte am 23. Januar, die sozialistisch-linksliberale Regierung habe ein starkes Interesse daran, daß sich die sozialen Spannungen entlang ethnischen Linien entlüden. Durch eine "völlig falsche Politik" seien die Beziehungen zwischen den rund 800.000 bitterarmen Roma und den schätzungsweise 2,5 Millionen "dazuverarmten" Magyaren explosiv.

Wenn sich dann "Zigeuner und Nicht-Zigeuner" gegenseitig "an die Gurgel" sprängen, achte niemand mehr darauf, wer die tatsächlichen Verantwortlichen für die Misere seien. Farkas stützte seine Vorwürfe mit umfangreichen Statistiken. Seit 2004 habe die Regierung die Fördergelder für die Minderheiten immer weiter zusammengestrichen. Vor allem im Hinblick auf die Bildungsstipendien habe das eine katastrophale Auswirkung. Denn übereinstimmend weiß man, daß der einzige Ausweg aus der miserablen Lage der Roma bessere Bildung ist. Denn die Segregation beginnt schon sehr früh: Über 50 Prozent der Roma-Kinder besuchen nie einen Kindergarten. Zwar haben 82,5 Prozent der Roma zwischen 20 bis 24 Jahren die achtjährige Grundschule absolviert, aber viele von ihnen brauchen dazu mehrere Anläufe. Eine weiterführende Schule besuchen dann nur 20 Prozent der Roma, und das Abitur erreichen gerade einmal fünf Prozent.

Es ist daher nicht verwunderlich, daß bei diesen "Bildungsbiographien" kaum mehr als ein Prozent eines Roma-Jahrgangs einen Hochschulabschluß vorweisen kann. Die Situation der Zigeuner ist auch in den Nachbarländern Ungarns sehr ähnlich. Der rumänische "Maugli" - den man wieder in Budapest wähnt - war noch nie in einer Schule.

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