© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/08 01. Februar 2008

"Austausch von Rede und Gegenrede"
Der Beißreflex des Untertanen: Hinter der Fassade Meinungsfreiheit grassieren Furcht, Zensur und Selbstzensur
Thorsten Hinz

In der FAZ vom 23. Januar holte ein Redakteur namens Christian Geyer die ganz große Keule heraus. "Widerlich und totalitär" sei es, was im Internet über seinen Feuilletonkollegen Jens Jessen von der Wochenzeitung Die Zeit nach dessen Videoblog (die JF berichtete) hereinbreche. Gewiß, viele Eintragungen sind unschön, doch man kann darüber streiten, was "widerlicher" ist: einem, der zusammengeprügelt am Boden liegt, noch einen verbalen Fußtritt zu verpassen, oder als Reaktion darauf dem Nachtreter zu wünschen, ihm möge das gleiche passieren. Dann wird Geyer prinzipiell: Die Haßblogger bedrohten "eine politische Kultur, die vom uneingeschüchterten Austausch von Rede und Gegenrede" lebe.

In welcher Welt lebt der Mann? Und in welchen Medien findet ein "uneingeschüchterter Austausch von Rede und Gegenrede" über - die Aufzählung erfolgt aus dem Handgelenk - Abtreibung, Ausländer, Holocaust-Religion und die daran geknüpften Interessen, über Europa- und Parteienoligarchien, Feminismus und Islam statt? Die Hinrichtung Eva Hermans war der FAZ bloß ein paar geschmäcklerische Kommentare wert, die sich zumeist gegen das Opfer richteten. Ein bißchen Reflexion und Selbstreflexion wären also nicht schlecht: etwa darüber, inwieweit die Informations- und Meinungsfreiheit nur eine Fassade bildet, hinter der Furcht, Zensur und Selbstzensur grassieren, und ob die Haßnachrichten nicht ein Spiegel sind, in dem diejenigen, die am Erhalt dieser Fassade bauen, ihre Kollaboration mit den Machtverhältnissen und ihr furchtverzerrtes Gesicht wahrnehmen. Lenin übrigens, dessen ikonographische Bedeutung für Jessen noch immer nicht ganz klar ist, verglich die Freiheit des bürgerlichen Journalisten mit der einer angepflockten Ziege.

Im Herbst 1989, als die SED-Medien die Realitäten in nicht mehr für möglich gehaltener Weise verzerrten, zogen Demonstranten vor die Gebäude von ADN und Neues Deutschland und riefen: "Lügner, Lügner!" Es verriete nur den Beißreflex des geborenen Untertanen, würde man heute nachrechnen, wie viele verkrachte Existenzen sich unter den Rufern befanden. Denn geschichtlich und politisch hatten sie recht!

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