© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/08 01. Februar 2008

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Wurzeln
Karl Heinzen

Für die Freiheit, die die Bewohner der Bundesrepublik Deutschland heute genießen dürfen und leider zu oft als Selbstverständlichkeit betrachten, gibt es viele historische Erklärungen. Jede Generation hatte bislang ihre eigene parat. Sogar jene der ansonsten doch eher schamvoll schweigenden Kriegsteilnehmer stellte hier keine Ausnahme dar: War es nicht so, daß allein sie durch ihren beherzten Verzögerungskampf gegen den Bolschewismus wenigstens den Westdeutschen ermöglicht hat, unter die Obhut der Amerikaner, Briten und Franzosen zu gelangen und damit einem neuerlichen totalitären Regime zu entgehen? Die Generation des Wiederaufbaus schließlich durfte von sich behaupten, nur nach vorn und nicht zurückschauend den Gürtel enger geschnallt und die materiellen Voraussetzungen für eine gelungene Demokratie geschaffen zu haben.

Alle diese Leistungen, dies hat sich in den vergangenen Jahren als Erkenntnis durchgesetzt, verblassen jedoch gegenüber jenen, die die Generation der "68er" erbrachte. Mutig und uneigennützig brach sie mit allen erdenklichen Denktabus und befreite jene, die zuvor, oft schon jahrhundertelang, im Schatten gestanden hatten, aus den Zwängen nur noch durch eine irrationale Tradition gestützter Rollenmuster.

Fast konnte man schon den Eindruck gewinnen, daß die Geschichte der Freiheit mit den 68ern ihr Ziel bereits erreicht hatte. Keine Aufgabe schienen sie den Nachgeborenen mehr übriggelassen zu haben, diesen blieb offenbar nur noch aufgegeben, sich in gemachten Betten liegend im Glück zu suhlen. Gegen diese Sicht haben nun die taz und ihr Umfeld Protest erhoben: Der eigentliche Siegeszug der Freiheit ist, so die historische Richtigstellung, erst durch den Tunix-Kongress losgetreten worden, der sich vor dreißig  Jahren in West-Berlin zugetragen hat. Obwohl die radikale Linke durch die Niederwerfung des RAF-Aufstandes wenige Monate zuvor damals schwer gekränkt war, hat sie nicht geschmollt, sondern die Ärmel hochgekrempelt. Das Starren auf die große Utopie fand ein Ende, und beherzt wandte man sich konkreten Graswurzelprojekten zu, um doch den Versuch eines richtigen Lebens in einer falschen Gesellschaft zu wagen.

Vom alternativen Fahrradreparaturladen und der revolutionären Tischlerei bis hin zur linken Tageszeitung und der Partei der Grünen ist für so ziemlich alles, was in unserer Republik heute unentbehrlich ist, der Keim in der Tunix-Bewegung angelegt. 1978, nicht 1968 hat alles begonnen: Die Geschichte der Freiheit muß erneut umgeschrieben werden.

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