© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/08 01. Februar 2008

Stalin statt Stalingrad
Rechtzeitig zum 65. Jahrestag der Kapitulation des Kessels an der Wolga legt der Wiener Historiker Heinz Magenheimer seine Hintergrundstudie vor
Stefan Scheil

Heinz Magenheimer widmet sich seit geraumer Zeit den Wendepunkten des Zweiten Weltkriegs. Nun legt er eine Studie über Hintergrund und Ablauf des Dramas der deutschen Wehrmacht im Kessel von Stalingrad im Winter 1942/43 vor, das zweifellos mit der Kapitulation vom 2. Februar 1943 einen solchen Wendepunkt markierte.

Magenheimer beginnt seine Darstellung mit der Entscheidungsfindung innerhalb der deutschen Führung im Frühjahr 1942, wie und wo der Krieg in diesem Jahr zu führen sei. Im Prinzip standen dem Deutschen Reich mehrere Möglichkeiten offen. Zur Wahl stand zunächst die strategische Defensive, also die Konsolidierung der bestehenden Fronten bei gleichzeitiger Vertiefung der Rüstungsanstrengungen, um die gewaltigen Vorjahresverluste wieder auszugleichen. Eine solche Strategie schloß die Beseitigung von Baustellen innerhalb der Frontziehung nicht aus, so etwa die Eroberung von störenden feindlichen Festungen wie Sewastopol, Leningrad oder auch Malta.

Entschied man sich statt dessen für strategische Offensive, mit dem Ziel, einen der großen Gegner wie Großbritannien oder die Sowjetunion kriegsunfähig zu machen, dann blieb immer noch die Wahl des Gegners und des Ortes zu treffen, an dem die Entscheidung erzwungen werden sollte. Magenheimer läßt durchblicken, daß er selbst die schließlich getroffene Entscheidung für eine Offensive und auch die Wahl der Sowjetunion als Kampfplatz im Prinzip für richtig hält. Er hätte aber offenbar einen direkten erneuten Angriff auf Moskau für folgerichtiger erachtet und zitiert an dieser Stelle den alten chinesischen Kriegstheoretiker Sun-Tsu. Man greife im fremden Land immer den Herrscher an, lautete dessen Weisheit, insbesondere aber lasse man unwichtige Festungen links liegen.

Der schließlich von der deutschen Führung entworfene Feldzugsplan für das Jahr 1942 trug vor diesem Hintergrund den Keim des Desasters von vornherein in sich, daran läßt Magenheimer keinen Zweifel. Statt sich auf einen Feind und auf dessen Niederwerfung zu konzentrieren, ging die deutsche Wehrmacht sowohl in Nordafrika gegen Großbritannien wie in Südrußland gegen die Sowjetunion vor. Der Herrscher im Kreml wurde nicht direkt in Moskau angegriffen, obwohl er dies selbst erwartete und fürchtete. Zugleich wurde der Angriff im Süden noch einmal mit der doppelten Aufgabe der Eroberung Stalingrads und einem gleichzeitigen Schwenk nach Süden über den Kaukasus belastet, der sich wieder sowohl gegen die UdSSR als auch strategisch gegen Großbritannien richtete. Zu allem Überfluß verletzte man noch die Regel, keine unwichtigen Festungen des Gegners anzugreifen, und vergeudete im Sommer unersetzliche Reserven an Menschen, Material und vor allem Zeit mit der Eroberung der unwichtigsten von allen - von Sewastopol. So startete die große Offensive schließlich noch später als im Vorjahr, wo man bereits in ein winterliches Desaster geraten war.

Die Verantwortung für diese Fehlentscheidungen verteilt sich auf viele Schultern, ebenso wie die Verantwortung für die spätere Kette von Versäumnissen, die zum Untergang der 6. Armee in Stalingrad führte. Magenheimer räumt dem Verbleib der Armee vor Ort wegen der damit verbundenen Bindung starker Kräfte der Roten Armee inmitten der drohenden Totalkatastrophe einen gewissen militärischen Sinn ein. Andererseits weist er an dieser wie an anderen Stellen auf die Fehler der sowjetischen Militärführung hin. Statt sich mit der bloßen Einschließung der 6. Armee zu begnügen und die Hauptmasse der Streitkräfte für den weiteren Angriff auf die deutsche Hauptfront einzusetzen, hielten auch die Sowjets die sofortige Vernichtung der eingeschlossenen Festung für vordringlich und versäumten so den ganz großen strategischen Erfolg.

In diesen prinzipiellen Erwägungen liegt Magenheimers Hauptverdienst. Man hätte sich jedoch eine bessere Dokumentation gewünscht. So bleiben teilweise seine Thesen im Detail schwer rekonstruierbar, da die gelieferten Anmerkungen überwiegend eher kommentierend wirken und nur höchst selten auf die im Verzeichnis angegebene, zumeist ältere Literatur verweisen. Das begrenzt den Wert der Studie, die jedoch noch einmal spannend schildert, wie die Kriegswende in Stalingrad zustande kommen konnte.

Heinz Magenheimer: Stalingrad. Die große Kriegswende. Pour Le Mérite Verlag, Selent 2007, gebunden, 318 Seiten, Abbildungen, 25,95 Euro

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