© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/08 08. Februar 2008

Ein polnischer kausaler Nexus
Der polnisch-amerikanische Historiker Marek Chodakiewicz widerspricht der Antisemitismus-These von Jan Gross
Andrzej Madela

Der Konter kam punktgenau ins Ziel. Gleichzeitg zum Erscheinen des umstrittenen Buches "Furcht. Der Antisemitismus in Polen unmittelbar nach dem Krieg" auf polnisch, in dem Jan Gross den Polen genetischen Judenhaß und klammheimliche Zustimmung zum Holocaust vorwirft (JF 34/06), brachte das in Warschau ansässige Institut für Nationales Gedenken (IPN) zum 10. Januar eine Monographie von Marek Chodakiewicz in Stellung: "Nach der Vernichtung. Polnisch-jüdische Beziehungen 1944-1947". Im wohltuenden Gegensatz zum marktschreierischen Gestus von "Furcht" breitet der am Institute of World Politics in Washington lehrende Historiker zunächst eine  Fülle polnischen, jüdischen und sowjetischen Quellenmaterials  aus, durchforstet dieses auf dessen Perspektive, Wissensgehalt und Parteilichkeit hin und gelangt erst auf den letzten Seiten zu  einer differenzierten Bilanz.

Kühn ist dabei der gewählte Hintergrund 1939-1947: Dieser kennt wohl Brüche und Zäsuren, bleibt aber im ganzen dem Totalitarismus-Gedanken verpflichtet. Auf jeden Fall macht das Werk, auch hier konsequent anders als der Grundansatz von Gross, den großen, europäischen Zusammenhang kenntlich, vor dem der 46jährige Autor dann die Ereignisse präsentiert. So gesehen  bringt das Jahr 1945 den Polen lediglich einen Wechsel in Unfreiheit. Die fremde Macht "befreit" das Land keineswegs; sie vertreibt und vernichtet zwar auf polnischem Terrain die Militärmaschine ihrer braunen Konkurrenz, setzt aber im  gleichen Atemzug zur Vertreibung und Vernichtung all dessen auf "befreitem" Gebiet an, das sich der neuen, nun kommunistischen Gewaltherrschaft (noch) verweigert. Daran hatten jüdische Funktionäre einen nicht unerheblichen Anteil. 

Allerdings: Vor dem Hintergrund aus sowjetischer Fremdherrschaft, überbordenden Flüchtlingsströmen und explodierender Massenkriminalität läßt der Verfasser den polnisch-jüdischen Komplex als eine Größe zweiten Grades und das kommunistische Judentum in dem einfühlsam gezeichneten Panorama nicht überdimensioniert erscheinen. Hingegen gibt es darin Platz für orthodoxe, "bündische", gar rechte jüdische Organisationen, ebenso für deren täglichen Umgang mit Polen über Handel, Verwaltung, Soziales, Justiz und die  unmittelbaren nachbarschaftlichen Kontakte. So schildert der Autor - gegen den vorherrschenden Ton rechtsnationaler Publizistik gewandt, aber auch quer zum linken Geschichtsbild - nicht nur Beispiele aktiver Hilfe, die die katholische Kirche 1939 bis 1945 den Bedrohten leistete, sondern auch Situationen, in denen Juden nach 1944/45 ihre politisch belasteten polnischen Nachbarn vor Gericht verteidigten, materielle und geistige Unterstützung brachten, gar deren schieres Überleben sicherten. Die dargebotenen Fälle offenbaren dabei eine erstaunliche Vielfalt jüdischen Nachkriegslebens und alltäglicher Formen des Verkehrs mit ihren polnischen Nachbarn. Vor allem aber: Sie verwerfen das Bild "des" Judentums als unhaltbar und heben die in "Furcht" forcierte Ansicht aus den Angeln, polnisch-jüdische Nachkriegsbeziehungen seien auf politische Konkurrenz, Haß und Angst reduzierbar.

Zerfällt auf der einen Seite "das" Judentum in eine Vielzahl eigenständiger Subjekte, gilt dieses auch für "den" Antisemitismus. Zwar ist der rücksichtslose Kampf polnischer Kommunisten für die Sowjetisierung undenkbar ohne seinen hohen jüdischen Opferanteil. Allerdings ist dem Autor zu folgen, wenn er - in eindeutiger Opposition zur Hauptthese von "Furcht" - aufgrund vielfacher Belege behauptet, daß jüdische  Funktionsträger zuallermeist nicht als "Juden", sondern als "Moskauer" vom radikalen Untergrund gerichtet werden, der seinerseits die Gewaltakte als Widerstand gegen die Besatzungsmacht, gar als patriotische Tat versteht. Überdies legen etliche Dokumente die Vermutung nahe, die Nachkriegspogrome könnten Provokationen kommunistischer Behörden  gewesen sein - geeignet, Untergrund, parlamentarische Opposition und katholische Kirche als deren "faktische" Urheber zu diskreditieren.  

Die tiefste Ursache jüdischen Leids ortet Chodakiewicz jedoch in der nur aus der Zeit heraus erklärbaren, nahezu vollständigen Zerrüttung rechtlicher Norm und Gesetzeskraft, in der Entkoppelung von nationalem Wir-Gefühl und staatsbürgerlichem  Pflichtbewußtsein - in einem Faktor mithin, über den Gross konsequent hinwegsieht. Dies und der Zusammenbruch administrativ-ordnungspolitischer Staatspflicht in den Wirren des Krieges und den gewaltigen Vertriebenen- und Flüchtlingsströmen unmittelbar danach öffnen (auch) einer Schwerkriminalität unvorstellbaren Ausmaßes Tür und Tor, die sich ihre Opfer  bevorzugt unter denen sucht, welche in den ersten Nachkriegsjahren vielfach mit ihrem gesamten Hab und Gut Europa hinter sich lassen wollen. Die jüdischen Opfer eines solchen, nur aus dem Zeitzusammenhang verstehbaren Verbrechertums überwiegen bei weitem, so der Autor. So verwerflich die Untaten an den Flüchtlingen aber auch erscheinen - man kann sie kaum pauschal "dem" Antisemitismus zuschlagen.

Folgt man dem Verfasser auf seinem argumentativen Pfad, erkennt man bald, daß er dabei ist, den verfahrenen polnisch-jüdischen Komplex zu entdämonisieren. Seine Monographie verwirft den ausgelaugten Täter-Opfer-Zusammenhang, geht differenziert bei der Materialauswertung der Opferzahlen vor und bedient sich einer unverbrauchten Sprache und Forschungsperspektive. Dabei bestreitet sie nicht die Existenz von Antisemitismus im Nachkriegspolen, verharmlost nicht dessen Ausmaß, weiß aber auf den geschichtlichen Zusammenhang zu verweisen, in dem dieser virulent wurde. Gestützt auf im ganzen solide Quellenarbeit (er wartet mit einer Opferzahl zwischen 350 und 600 auf), ist Chodakiewicz wohl in der Lage, die in "Furcht" beweislos geführten Größen zu widerlegen. Auch zeigt er, daß Antisemitismus keinerlei "Veranlagung" bestimmter Völker ist wie laut Goldhagen und Co. suggeriert, sondern zu einem gehörigen Teil zumeist Resultat von Unfreiheit, in der sich kollektive  Stereotype zu Vorurteilen verdichten.    

Als amerikanischer Historiker macht Chodakiewicz auf einen weiteren Umstand aufmerksam: daß nämlich der "Holocaust" in der US-Gegenwart längst zu einem Phänomen der Popkultur degeneriert ist, einem vielbeschwatzten Gegenstand mithin, bei dessen vielfach  amateurhafter, dafür aber massenwirksamer Darstellung nicht einmal mehr publizistische Minimalstandards gelten. Er kennzeichnet aber auch einen anderen, viel bedeutsameren Vorgang: Seit Mitte  der achtziger Jahre liegt die Holocaust-Forschung in den USA in den Händen  einer dort weit nach dem Krieg geborenen Generation, der eine intime Kenntnis des osteuropäischen Vielvölkergemischs zwischen Polen, Litauen, Rußland und der Ukraine einfach abhanden gekommen ist und die -  der dortigen Sprachen oft nur bedingt kundig - sich auf Dokumente aus zweiter, mitunter auch dritter Hand stützen muß.

Diese Generation (ihr prominentester Vertreter ist Daniel Goldhagen) ist seit gut einem Jahrzehnt dabei, die "willigen Vollstrecker" unter die Lupe zu nehmen und - in einem popkulturellen Gemisch aus ganzer Publizität und halber Kenntnis - die Schuld am Massenmord an den Juden von den Nationalsozialisten weg zu den osteuropäischen Völkern hin zu verschieben. Gemessen an diesen Standards mutet Gross' "Angst" als Musterbeispiel wissenschaftlich mühevoller Kleinarbeit an.

Marek Chodakiewicz: Nach der Vernichtung.  Polnisch-jüdische Beziehungen 1944-1947 (Po zagladzie. Stosunki polsko-zydowskie 1944-1947), Bd. 38 der Reihe "Monographien", IPN  (Instytut Pamięci Narodowej), Warschau 2007, gebunden, 252 Seiten, 28 Złoty

Foto: Der oberste Rabbi Polens, Michael Schurdrich, und Kielces Bischof Marian Florczyk pflanzen 2006 eine Eiche zum Gedenken an den Pogrom von 1946: Kein genetischer Antisemistismus

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