© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/08 15. Februar 2008

Pankraz,
das Zuchthaus und die Nonne von Milwaukee

Die Nachrichten aus dem Hinterland der westlichen Führungsmacht klingen immer exotischer. Jetzt hat man in Milwaukee am Michigan-See eine katholische Nonne zu Gefängnis ohne Bewährung verurteilt, weil sie zwei Jungen "sexuell belästigt und mißbraucht" habe, woraus den Jungen "schwerster seelischer und materieller Schaden" erwachsen sei.

Die verurteilte Nonne ist achtzig Jahre alt, die Kläger, also die mißbrauchten Jungen, stehen hoch in den Fünfzigern. Das Verbrechen geschah vor fünfundvierzig Jahren, als die Nonne zuerst Lehrerin, später Direktorin einer katholischen Schule war. Die Kläger waren ihre Schüler. Sie habe sie zunächst becirct, später regelrecht verführt und von sich abhängig gemacht. Dadurch, so die Kläger, "ist unser ganzes Leben zerstört und uns der Glaube an Jesus Christus genommen worden". Der Staatsanwalt beantragte acht Jahre Zuchthaus. Das Gericht verhängte ein Jahr.

Mitteleuropäische Beobachter fragen sich erstaunt, weshalb es so lange gedauert hat, bis der Fall aufgerollt wurde, ja, weshalb ein solcher Prozeß nach so langer Zeit überhaupt möglich ist. Die Jungen haben damals ihren Eltern nichts erzählt, haben all die Jahrzehnte danach keinen Mucks getan, sind weiter in die Kirche gegangen, haben geheiratet und Kinder gekriegt. Und heute fällt ihnen plötzlich ein, daß ihr Leben und ihr Glaube durch eine sextolle Nonne zerstört ist. Was soll man davon halten?

Pankraz kann es sich eigentlich nur so erklären, daß die "Jungen" mittlerweile zuviel Michael Crichton gelesen haben. Von diesem berühmten Bestsellerautor gibt es bekanntlich den (auch auf deutsch erhältlichen) Roman "Enthüllung", und dort erinnert sich ein Mann (genau wie jetzt die "Jungen" in Milwaukee), daß er einst von seiner Chefin sexuell belästigt worden ist und daß man heute daraus gutes juristisches Spektakel, mediale Aufmerksamkeit und schönes Kapital schlagen könnte.

Allerdings gibt es drüben auch in der Wirklichkeit fast täglich einschlägige Vorkommnisse, die zur Nachahmung einladen, selbst wenn sie für die Kläger einmal negativ ausgehen. Der bisher spektakulärste Fall war der des katholischen Bischofs von Chicago, den ein Mann beschuldigte, ihn vor siebzehn Jahren, als er noch Knabe und Meßdiener war, in schlimmster Weise sexuell behelligt zu haben; er fordere nun zehn Millionen Dollar Schmerzensgeld. Der Bischof hatte gute Anwälte, der Kläger brach unter ihren Vorhaltungen zusammen und nahm alles zurück. Doch der Bischof sah sich nachhaltig um seinen Ruf gebracht, trotzdem er den Prozeß gewonnen hatte.

Sexuelle Belästigung einzuklagen, ist in den USA zu einer mächtigen Waffe in politischen und weltanschaulichen Kämpfen geworden. Besonders die christlichen Evangelikalen, die flächendeckend in der Offensive sind und von Ottawa bis Rio de Janeiro die katholische Kirche verdrängen, nutzen sie rücksichtslos. "Katholisch = Sexuelle Belästigung" - so die gar nicht mehr sonderlich versteckte Kulturkampf-Parole; der Nonnenprozeß von Milwaukee ließe sich leicht darin einordnen. Milwaukee ist ein Zentrum des US-Katholizismus mit Bischofssitz und katholischer Universität, doch die Evangelikalen greifen auch dort mit Verve an.

Meistens geht es bei Prozessen wie dem von Milwaukee freilich erst in zweiter Linie um politische und religiöse Macht; in erster Linie geht es um Geld. Das Stichwort lautet "memory recovery" (Wiederentdeckung durch Erinnerung). Unter diesem Titel hat sich in den letzten Jahren eine regelrechte, umsatzkräftige Erinnerungsindustrie etabliert. Zahlreiche psychoanalytische Praxen überall im Land bieten ihre Dienste an und können über Kunden (die dort "Patienten" heißen) nicht klagen.

Wenn jemand Geld braucht oder auf geldträchtige mediale Aufmerksamkeit aus ist, dann geht er einfach zum Psychotherapeuten und läßt sich analysieren. Dabei kommt heraus, daß er (oder sie) vor vielen Jahren vom Vater oder vom Onkel, von der Mutter oder von der Tante, vom Lehrer oder von der Chefin (oder eben von einer Nonne) vergewaltigt oder sexuell belästigt worden sei. Man habe das aus verständlichen Gründen vollkommen verdrängt, vulgo: schlicht vergessen gehabt, doch jetzt sei es dank der Tüchtigkeit der Psychologen wieder zutage gekommen, und nun verlange man hunderttausend Dollar Schmerzensgeld, mindestens.

Es gibt inzwischen auch Abwehrmechanismen gegen "memory recovery". Eine Stiftung ist ins Leben gerufen worden, die den Beschuldigten zur Seite zu stehen verspricht: "False Memory Syndrome Foundation". Die erfolgreichen Anwälte des Bischofs von Chicago gehörten ihr an. Aber die Stiftung will nicht nur Justizopfern helfen, sie will auch einen Beitrag leisten zur Klärung der Grenzen zwischen Justiz und Kommerz, Gerechtigkeit und Heuchelei beim so heiklen Thema "Sex mit Minderjährigen und/oder institutionell Abhängigen".

Die "Diskussion" über dieses Thema ist ja seit unheilvollen 68er-Tagen durch und durch verwirrt und verschweint. "Revolutionäre" Sexapostel mit durchaus egoistischen Hintergedanken trommelten zur "totalen sexuellen Befreiung" und praktizierten sie auch. Jahrtausendealte Moralanweisungen und ernsthafteste Tabus wurden höhnisch beiseite geräumt, es entstand ein Riesensumpf, in dem sich nun Pädophilenring-Bosse und andere Geschäftemacher ebenso tummeln wie eifernde Sektierer, skrupellose Politiker und unsichere Juristen.

Und es ist wohl wahr: Am deprimierendsten ist dabei die Verquickung von Geschäfte- bzw. Politikmacherei mit Erinnerungskultur, wie sie sich in "memory recovery" institutionalisiert hat. Der Nonnenprozeß von Milwaukee liefert dazu die Anschauung. Sowohl Empörte wie Amüsierte kommen auf ihre Kosten. Wie sah das damals aus, als die fünfunddreißigjährige Nonne ihre dreizehn Jahre alten Schüler mißbrauchte? Und wieviel ist das heute wert? Acht Jahre Zuchthaus? Ein Jahr? Oder doch nur einen deftigen Pornofilm? Schani, laß den Vorhang runter!

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