© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/08 15. Februar 2008

Wo Leutnant Jünger seinen Mantel auszog
Nils Fabiansson erschließt in seinem bemerkenswerten "Begleitbuch" die Topographie des Schlachtengemälde "In Stahlgewittern"
Matthias Bäkermann

Bei der zweiten Lektüre will man es genauer wissen. Die beim Trödler erstandene Karte von Nordfrankreich und Belgien aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf den Knien, stößt der gewissenhafte Abgleich der wichtigsten Orte des vierjährigen mörderischen Ringens von 1914 bis 1918 sogleich an seine Grenzen: Bazancourt nordöstlich von Reims findet man sofort. Aber Orainville, das Dorf, das der junge Rekrut Ernst Jünger mit dem Hannoverschen Füsilierregiment Nr. 73 Anfang Januar 1915 als ersten "Ruheort" an der Westfront bezieht, läßt sich schon nicht mehr ausfindig machen. Dabei erfährt der Leser seiner weltberühmten Weltkriegsschilderung "In Stahlgewittern", wie der damals Zwanzigjährige in diesem Champagne-Kaff "so rätselhaft, so unpersönlich" die "Krallen des Krieges" erkennen mußte, als eine feindliche Artilleriesalve die so friedlich anmutende Etappen­idylle jäh und blutig zerschlug.

Dem Archäologen und Historiker Nils Fabiansson dürfte es ähnlich ergangen sein, als er im Zuge seiner Grabungen, die sich mehr den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs als denen von Issos oder Cannae widmeten, unweigerlich auf das Kriegsbuch schlechthin stieß. Jüngers äußerst genaue Beschreibungen von Ereignissen und Orten aus den Stahlgewittern wurden für den vierzigjährigen Schweden "zu einem Dokument des Übergangs von dem in Schriften überlieferten Bild der geschichtlichen Ereignisse zu den immer noch vorhanden Orten im Raum, an denen die geschichtlichen Ereignisse stattfanden". Dennoch eignete sich "In Stahlgewittern" nur begrenzt als Vademecum für den die historischen Orte Flanderns und der Champagne durchstreifenden Schlachtfeldbummler. Um sich einen Pfad durch das Dickicht von den bei Jünger erwähnten 125 französischen und belgischen Dörfern und Städten sowie den über 160 Personen zu schlagen, waren umfangreichere Quellenrecherchen notwendig. Die den Autor dabei erfassende Begeisterung am Werk des "Jahrhundertlebens" ließ aus dem geplanten "Feldführer" ein kundiges Begleitbuch werden, wie es Fabiansson "selbst gern zur Hand gehabt hätte". Zwischenzeitlich hat der Redakteur des vom schwedischen Historikerverband herausgegebenen Periodikums Historisk tidskrift sein Projekt um ein englischsprachiges Internet-Blog (stahlgewittern.blogspot.com) erweitert.

Die Akribie, die dem Begleitbuch zugrunde gelegt wurde, erschließt sich weniger über dessen überschaubaren Umfang als in der eingearbeiteten Fülle von Informationen, auch die jüngsten Großbiographien von Heimo Schwilk und Helmuth Kiesel werden berücksichtigt. Einen literaturwissenschaftlichen Ansatz allerdings umgehend - die metaphysische Sphäre des Jüngerschen Werkes bleibt verborgen -, ermittelt Fabiansson primär drehbuchhafte Rahmenfaktoren. Er spricht davon, daß er Jünger "mit den Augen eines Archäologen" wahrnahm. Immerhin hat dieser Archäologe sich nicht gescheut, bei seinen topographischen Erkundungen einen Abgleich der vielen verschiedenen Werkausgaben anzustrengen. So wird der gewöhnlich nicht auf die erste Fassung zurückgreifende Leser die Information schätzen, daß nur ein Zufall den Kriegsfreiwilligen an die Grabenfront im Westen brachte. Im August 1914 versuchte Jünger zunächst, sich beim Hannoverschen Infanterie-Regiment Nr. 74 zu melden: "Es war nicht einfach gewesen, beim 'Gibraltar' anzukommen; die Freiwilligen belagerten das Kasernentor am Waterlooplatz. Zuvor hatte ich bei den 74ern vergeblich angestanden - wie nun, wenn es mir geglückt wäre? Alles hätte sich anders gewendet (...), ich hätte, wie auch immer, den Krieg an der Ostfront kennengelernt", notierte Jünger fünfzig Jahre später.

Fabiansson, dessen Profession als Archäologe sich mit einer von nicht wenigen geteilten morbiden Leidenschaft zu treffen scheint, begibt sich also in die gespenstige Aura der Todeszonen des Ersten Weltkriegs, um bei Verdun oder Ypern die Felder nach verrosteten Schrapnellkugeln abzusuchen. Er schreitet alle Plätze des blutigen Gemetzels ab, an denen Jünger auf dem Weg zum vom Kaiser verliehenen höchsten Orden "Pour le Mérite" auch seine 14 teilweise schweren Verwundungen erhielt. Dabei hält er sich strikt an die Chronologie des Tagebuchs. Der Reihe nach erschließt er die Plätze von "den Kreidegräben der Champagne" ausgehend, wo Jünger durch seinen glücklichen Etappen-Aufenthalt im Februar 1915 dem tödlichen Schicksal so vieler Regimentskameraden mit der blauen "Gibraltarbinde" entging, die kompanieweise bei Perthes östlich von Reims im französischen Trommelfeuer zermalmt wurden. Beklemmend muten dann selbst noch aktuelle Aufnahmen aus dem französischen "Tranchée de Calonne" im Argonnerwald oberhalb der Mosel östlich von Verdun an, in denen der süßliche Verwesungsduft wochenlang unbestatteter Poilus dem Hannoveraner "ein Schaudern, das ich im Kriege nie ganz verlor" penetrant ins Bewußtsein drängte.

Natürlich bilden die Schlachtorte an der Somme um die Städte Bapaume, Cambrai und St. Quentin sowie in Flandern auch den Schwerpunkt des Begleitbuchs. Mit Karten, zeitgenössischen Fotos, Jüngers Skizzen und aktuellen Aufnahmen gespickt, wird die unwirkliche Welt eingerahmt, in der Jünger bei Guillemont am Höhenpunkt der alliierten Großoffensive im August 1916 im Furor des Gefechtes auf den ersten deutschen Soldaten mit Stahlhelm statt Pickelhaube traf. "Er erscheint mir sogleich als Bewohner einer fremden und härteren Welt", schrieb Jünger in sein Tagebuch. Das gleiche gilt für die morastige Ebene in Flandern, wo Jünger in den Kämpfen bei Ypern während der Schanzarbeiten in den regennassen Gräben auf die Hinterlassenschaften der ersten Schlacht von Langemarck aus dem Herbst 1914 zu stoßen glaubte und er seinem schwerverwundeten Bruder Friedrich Georg das Leben rettete. Da bekanntlich keine Ausgabe des in viele Sprachen übersetzten Jüngerschen Werkes über Illustrationen verfügt, beeindrucken die Originalaufnahmen aus des Dichters Fundus. So bekommen zum Beispiel die Unteroffiziere Dujesiefken und Mevius ein Gesicht. Die aus den nächtlichen Spähtrupps im lothringischen Regniéville bekannten Gefährten und "tollsten Draufgänger des zweiten Bataillons" stehen wenig martialisch neben ihrem an der Hand verwundeten Leutnant und dessen ebensowenig imposanten Kampf­uniform - allein durch Leuchte, "EK I", und Reitgerte ergänzt.

Obwohl der Klappentext auf dem leider nur broschierten Einband das Begleitbuch als Hinweisquelle für "Leser und Touristen" ausweist, vermag die Komposition noch etwas anderes zu leisten: Just dieser Tage ist mit dem Tod des allerletzten deutschen Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs, dem 107jährigen Erich Kästner, auch jede Zeitzeugenschaft erloschen. Die "Knochenmühlen" der "Urkatastrophe" sind allenfalls noch der heutigen Großelterngeneration aus Erzählungen präsent. Zwischen den Betrachtern und den vergessenen Namen auf den unzähligen schwarzen und weißen Grabmalen der Heldenfriedhöfe zwischen Ärmelkanal und Vogesen hat sich die historische Distanz beinahe eines Jahrhunderts aufgebaut. Weiß man jedoch aus der Lektüre der "Stahlgewitter" um das Sterben eines blutjungen Karl Steinvorth, eines Leutnant Gebhard Schulz oder eines Lieutenant O.C. Stokes, entreißen die Fotos der Grabsteine dieser Soldaten "diesen Scheißkrieg" (Ernst Jünger) aus der anonymen Ferne des Geschichtsbuches und veranschaulichen andererseits eindringlich, daß Jüngers "In Stahlgewittern" auf einer schrecklichen Realität beruhte und die belletristische Floskel "Alles frei erfunden" leider niemals zum Tragen kommen konnte.

 

Fotos: Jüngers Zeichnung der Hohlwegstellung. Jüngers geographische Hinweise stimmen allerdings mit den tatsächlichen Gegebenheiten nicht überein: "Vor uns lag der wie ein Kinderspielzeug zerknüllte Bahnhof; weiter hinten der in Späne zerrissene Wald von Delville." Die Aussicht, die er beschreibt, war in Wirklichkeit die nach rechts, also Richtung Norden.

"Nach dem Angriff b. Regniéville. An der Hand verwundet!", Notiz auf Foto von Jünger mit Dujesiefken (mit Armbinde) und Mevius (rechts): Eine gewisse Authentizität zurückgerufen

Leutnant Ernst Jünger (1895-1998) mit dem Pour le mérite: "Ein Schaudern, das ich im Kriege nie ganz verlor"

Nils Fabiansson: Das Begleitbuch zu Ernst Jünger in Stahlgewittern. Verlag Mittler & Sohn, Hamburg 2007, broschiert, 159 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

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