© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/08 22. Februar 2008

"Verbrechen gegen die Menschlichkeit"
Türkei: Premier Erdogan fordert für die Auslandstürken Rechte ein, die sein Land selbst nicht gewährt
Günther Deschner

Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit", hat Premier Recep Tayyip Erdogan vor 15.000 Anhängern kürzlich in seiner Kölner "Sportpalastrede" verkündet (siehe den Beitrag auf Seite 2). Für seine Türkei gilt dies offenbar nicht. Ethnische und religiöse Minderheiten haben dort schlechte Karten: Den heute etwa 15 Millionen Kurden des Landes - mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung - hat der Staat im Namen eines "heiligen Türkentums" über Jahrzehnte eine künstliche Identität überzustülpen versucht. Sie mußten ihre Namen türkisieren, sollten ihre Sprache und Kultur aufgeben. Diese Zwangsassimilierung war ein Verbrechen, das bis andauert.

Eine gefährliche Allianz zwischen Staatsislam und chauvinistischem Nationalismus bedroht die Minderheiten der Türkei, ethnische ebenso wie religiöse. Nicht zuletzt die Mordserie des vergangenen Jahres, deren Höhepunkt die Morde an den evangelikalen Christen in Malatya darstellten - und deren Täter und Hintermänner ihre Motive aus einer ideologischen Emulsion von türkischem Herrenmenschenwahn und religiösem Fanatismus bezogen -, ist dafür ein anschaulicher Beleg. Die herrschende türkische Staatsideologie hat sich seit Jahrzehnten des gleichgeschalteten sunnitischen Islam bedient, um die Demokratisierung des Landes zu verhindern.

Nicht-assimilierungswillige Minderheiten ausgeschlossen

Die hysterische Überbetonung des "Türkentums" als eine Art nationalen Sendungsauftrags hielt man bisher für eine Domäne der (in der türkischen Gesellschaft sehr starken) Rechtsextremen. Es hat aber den Anschein, als könne sich dieser elementare Bestandteil türkischer nationaler Identität unter der Regierung des sich manchmal diplomatisch gebenden Erdoğan und seiner islamistischen Regierungspartei AKP sogar noch verdichten. Genau wie früher sind auch im 21. Jahrhundert alle nicht-assimilierungswilligen Minderheiten wie Kurden, Tscherkessen oder Araber genauso wie Aleviten (siehe den Beitrag auf Seite 10) oder Christen de facto aus dem "Staatsvolk" ausgeschlossen.

Wenn Erdoğan seine Philippika gegen den Assimilierungszwang auch im Januar bei seinem Besuch in Diyarbakır (Amed) gehalten hätte, wo die Kurden zu Hause sind, und wenn sich die Minderheitenpolitik seiner Regierung auch entsprechend orientieren würde, könnten sicherlich alle Kurden, Aleviten oder Christen applaudieren. Doch der türkische Premier sagt in Köln dieses, in Diyarbakır das Gegenteil. Als ihm der Vorsitzende der Anwaltskammer in Diyarbakır den Vorschlag machte, die prekäre Lage in Kurdistan durch die Einführung von Kurdischunterricht in den staatlichen Schulen zu entspannen, antwortete Erdoğan verärgert, wenn man den Kurden das Recht auf ihre Muttersprache gebe, dann könnten als nächste die Larsen und Tscherkessen mit solchen Forderungen kommen. In Köln sagte er: "Selbstverständlich werden unsere Kinder Türkisch lernen. Das ist Ihre Muttersprache und es ist Ihr natürliches Recht, Ihre Muttersprache Ihren Kindern weiterzugeben." Ein kurdischer Menschenrechtler kommentierte sarkastisch: "Aha! Merke: Muttersprache ist gut für Türken, aber schlecht für Kurden." Für die kurdischen Kinder in der Türkei heißt es nach wie vor, jeden Tag zu Beginn des Unterrichts strammzustehen und zu schwören: "Ich bin Türke. Ich bin glücklich, Türke sein zu dürfen."

Die türkische Verfassung erlaubt den Angehörigen von Minderheiten nicht, als solche in der Öffentlichkeit aufzutreten oder sich wählen zu lassen und ihre Vertreter selbst zu bestimmen, in öffentlichen Gremien und Ausschüssen für ihre Rechte einzutreten, Vereine zu gründen sowie als Angehörige von Minderheiten politische Stellungnahmen abzugeben. Politischen Parteien ist es nach dem Parteiengesetz verboten zu behaupten, auf dem Staatsgebiet der Republik Türkei gebe es aufgrund der Verschiedenheit von nationaler und religiöser Kultur, Konfession, Rasse oder Sprache Minderheiten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärte diese Regelung für unvereinbar mit Artikel 11 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten.

Kurden und Christen sind der Prüf- und Stolperstein

Dabei hat auch die Türkei den internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte der Uno unterzeichnet und 2003 ratifiziert, der in Artikel 27 besagt: "In Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen."

Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Der Oberbürgermeister von Diyarbakır, Osman Baydemir, ist mit diversen Strafverfahren überzogen worden, da er in den letzten zwei Jahren die Neujahrswünsche in drei Sprachen, nämlich auf türkisch, kurdisch und englisch verfaßt hatte. Die Strafverfahren wegen Verwendung des Kurdischen stützen sich auf § 222 Abs. 1 Türkisches Strafgesetzbuch, wonach mit Haft von zwei bis sechs Monaten bestraft wird, wer Buchstaben verwendet, welche der türkischen Sprache fremd sind. Hierzu gehört auch der Buchstabe "W", der im kurdischen Neujahrswunsch vorkommt.

Die Tatsache, daß die Anklagen sich nur auf das Kurdische stützten, obwohl auch in den englischen Neujahrswünschen "We wish you a happy new year" mehrmals das "W" auftaucht, belegt auch nach Meinung des Vorsitzenden des Gemischten Parlamentarischen Ausschusses EU-Türkei, Joost Lagendijk, daß es sich bei den Anklagen um rein politische Akte handele.

Ihre besondere Zuspitzung findet Ankaras Intransigenz in Minderheitenfragen beim Thema "christliche Missionare". Lange hatte das Thema nur diverse extremistische Zirkel der Grauen Wölfe und fanatischer Islamisten beschäftigt. Sozusagen "amtlich" wurde es erst 2001, als der Nationale Sicherheitsrat noch unter dem Vorsitz des linksnationalen Premiers Bülent Ecevit ein Dokument veröffentlichte, das global vor der "Missionarsgefahr" warnte. Seither waren die Missionare ein öffentliches Thema. Extreme Nationalisten der Linken und der Rechten hielten es ebenso am Leben wie radikalislamistische Kreise. Man witterte in den christlichen Missionaren die gleiche Gefahr für die territoriale Unversehrtheit der Türkei wie im Kampf der kurdischen Nationalbewegung für Autonomie und Selbstbestimmung und beim Kauf türkischen Bodens durch Ausländer.

Kurden und Christen - sie sind der Prüf- und Stolperstein für eine Modernisierung der Türkei. "Nicht von ungefähr hat sich jüngste Bluttat gegen Christen in der kurdischsprachigen Region in und um Malatya ereignet", meinte kürzlich der Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker, Kamal Sido. "In den vergangenen 20 Jahren sind immer mehr Kurden zum Christentum übergetreten. Der Verlag, der angegriffen wurde, hatte die Bibel auch ins Kurdische übersetzt und herausgegeben. Kombiniert man 'christliche Mission' und Kurden, entsteht aus türkischer Sicht ein doppelt gefährlicher Komplex: religiöse Unterwanderung und Gefährdung der Einheit des türkischen Staates."

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