© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/08 29. Februar 2008

Tausend Seiten zuviel
Warum der SS-Roman "Die Wohlgesinnten" den Deutschen als Erfolg verkauft werden muß
Thor Kunkel

Nichts ist leichter, als frühere Ereignisse von der Warte überlegener Gegenwartskenntnisse aus zu verdammen. Unter dieser Prämisse gelingt dem 40jährigen US-Autor mit osteuropäischen Wurzeln und französischem Paß Jonathan Littell tatsächlich eine ungewohnt eigene Sicht auf Hitlers Schutzstaffel (SS), die in allen Unterhaltungsformaten bislang nur als "das Böse schlechthin" porträtiert wurde. "Die Wohlgesinnten" - fiktive Biographie des kultiviert-gebildeten, promovierten, homosexuellen und psychisch gestörten SS-Offiziers Max Aue - vermeidet konsequent jede moralische Lektion, sondern führt den Leser direkt ins Herz der Finsternis, das 1941 in dem halbwegs eroberten, östlichen Lebensraum pocht. Wie Infusionstierchen einer tödlichen Seuche sickern Aues Kameraden in die Sowjetunion ein. Eine Massenerschießung folgt der nächsten, alles läuft glatt und wie mit Blut und Angstschweiß geschmiert. Und nichts, aber auch gar nichts wird bereut.

So schnörkellos geschrieben wie ein "Landser"-Heft­roman und mit Lesefrüchten aus der vorsokratischen Philosophie angedickt, schildert uns der fast 1.400 Seiten lange Wälzer die grauenhaften Geschäftsreisen des ästhetisch veranlagten Schwulitäters kreuz und quer durch Polen, die Ukraine, von Luzk über Kiew nach Stalingrad und wieder zurück in das zerbombte Berlin, wo er seinen sichtlich zerfallenen Führer mit einem Nasenbiß verabschiedet, eine Szene von so ungeheurer Tragweite, daß der französische Verleger sie nicht abdrucken wollte. In der deutschen Übersetzung ist sie - Hitlers Nase - wieder enthalten, und darauf ist der Berlin-Verlag richtig stolz.

Aberwitziger noch als dieses Theater um nichts ist nur die Diskrepanz zwischen der Darstellung des Romans in den Medien und dem eigentlichen Text. Ist es wirklich dasselbe Buch - das Jahrhundertwerk, von dem die Frankfurter Allgemeine Zeitung seit Monaten faselt?  Es wird offiziell als Debütroman bezeichnet, obwohl es gar kein Debütroman ist! Nicht nur, daß die zahlreichen in der Originalausgabe enthaltenen und inzwischen bereinigten Patzer von der Presse vertuscht wurden, nein, der Roman scheint geradezu von Wohlgesinnten umgeben zu sein. Als Pate biederte sich der FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher an. Er dirigiert den Hype um Littells Roman mittels einer multimedialen, nach Dialog-Marketing riechenden Internetseite ("Reading Room"), auf der täglich Hunderte ihren Senf abgeben und dadurch ungewollt Teil des Vorverkaufs werden. Es ist die Simulation einer Debatte, die in Deutschland niemand mehr braucht und die auch nie in Wirklichkeit stattfinden wird.

Auch der Vorabdruck ausgewählter Passagen des Buches in der FAZ (zweifellos um das Stimmvieh für die Bestsellerliste aufzubringen) stilisierte den ehemaligen Science-Fiction-Autor Littell ("Bad Voltage") geschickt zum Wunderkind der Saison, obwohl es bei weitem nicht neu ist, aus der "Täterperspektive" zu schreiben. Jorge Luis Borges hat das in seiner Erzählung "Deutsches Requiem" bereits 1949 vorexerziert.

Sicher, Littell schreibt mit dem Enthusiasmus des inspirierten Dilettanten, und das Lesen seines Romans mag kurzweilig sein, doch einen Erkenntnisgewinn gibt es nicht. Und je weiter die Handlung voranschreitet, um so banaler wird das ganze Ge-Aue: Man glaubt das Drehbuch zu einem Sequel von Don Edmonds Film "Ilsa - She-Wolf of the SS" (1975) zu lesen. Auch Lee Thompsons kaum bekannter Streifen "The Passage" dürfte den Autor bei einzelnen Szenen bewegt haben, ganz zu schweigen von seinen offensichtlichen Anleihen bei Pasolinis "Salo", der den Folterreigen italienischer Faschisten ebenfalls schon 1975 genüßlich zelebrierte.

Littells schrille Stimme mag nicht alltäglich sein, aber selbst das Etikett "Prix Concourt" kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß er in natura ein Fußgängerfranzösisch schreibt, das vom wohlmeinenden deutschen Verlag auf die Zähigkeit einer Schuhsohle dehydriert wurde.  Was die Wandlungsfähigkeit seiner Sprache betrifft, so hat man - synchron zur inhaltlichen Bandbreite - nach den ersten 200 Seiten bereits alle Vielfalt gehört und keinen Wunsch mehr, weiterzulesen.  Der Klang stumpft von Seite zu Seite ab, ein symphonischer Roman sieht anders aus, vor allem langweilt er seine Leser nicht über volle siebzig, achtzig Seiten, in denen de facto nichts weiter passiert, als daß neue Leichen anfallen und Aue "kalt und präzise" über seine Darmkoliken halluziniert. Man braucht wahrscheinlich bestimmte Veranlagungen, um diesem Text ästhetischen Genuß abgewinnen zu können.

Nur selten gelingt Littell einmal ein halbwegs poetisches Bild: "Fieberhaft knöpfte ich meine Hose auf und hockte mich hin; doch anstelle von Scheiße quollen Bienen, Spinnen und Skorpione aus meinem After hervor." Und das ist nur eine von Hunderten Sch**ßstellen. Wer sich nicht vorstellen kann, daß es möglich ist, die Themenkreise Fäkalienschlacht, Judenjagen und Homo-Erotik abwechselnd über eintausend Seiten auszubreiten, der wird von diesem Roman eines Schlimmeren belehrt werden. Vom anfänglichen Nervenkitzel bleibt nicht viel übrig. Der Leser stumpft ab und freut sich fast schon auf die nächste standrechtliche Erschießung, nur um nicht lesen zu müssen, wie sich SS-Mann Aue die Hoden rasiert, seine Kumpels bei einer Doppel-Penetration überrascht oder einem gehängten Juden bei der letzten Ejakulation zusieht. Man muß literarisch schon verdammt unterbelichtet sein, um sich diesen Quatsch von der Frankfurter Schirrmacher-Maschine als den großen Wurf verkaufen zu lassen!

Erwartungsgemäß bricht der Roman da ab, wo die Deutschen endlich dran sind, reihenweise ins Gras zu beißen: Von der langen und nachhaltigen Rache der Sieger findet sich fast nichts in Aues ansonsten so peinlich genauen An(n)alen. Immerhin, nach der Kapitulation verloren noch unzählige deutsche Zivilisten ihr Leben. Aue entkommt jedenfalls ungeschoren nach Frankreich, wo er das Leben eines Fabrikanten von Spitzenware beginnt. Alles ist wieder gut, nur sein Dünnmarsch ist einer typisch bürgerlichen Dauer-Verstopfung gewichen, fast wünscht man diesem noch immer quasselnden "Rosa von Braunschwein" den sitzenden Tod.

Zu Recht hat sich Iris Radisch in der Zeit gefragt, warum man diese Memoiren "eines schlecht schreibenden, von sexuellen Perversionen gebeutelten  (...) Idioten" überhaupt lesen sollte. Die Antwort ist - zumindest für die philosemitische Öffentlichkeit - recht einfach: Der grelle Ton macht Littells SS-Schinken zu einem wichtigen Baustein im Kollektivschuld-Zirkus der Deutschen. Hier schafft ein grüner Junge fast linkshändig die Transkription des Holocaust in die zeitgemäße Vulgär-Ästhetik der jungen Generation. Der abstrakte, industrielle Prozeß der Vergasung (Unterhaltungswert Null) wird zum Killerspiel auf der literarischen Playstation, zum Splatter-Comic-Buch für die ganz "Coolen".  Auch sie dürfen niemals vergessen.

Bedauerlich, daß durch die Typologisierung Aues als Archetyp des SS-Manns ein weiterer Keil zwischen die Spätgeborenen und ihre Urgroßväter getrieben wird: Den Terminator zu spielen, ist eine Sache, in ihm einen Menschen zu sehen, ist unmöglich.

 

Thor Kunkel, Jahrgang 1963, ist Schriftsteller. Für Aufsehen und eine heftige Feuilletondebatte sorgte sein 2004 bei Eichborn erschienener Roman "Endstufe" (JF 18/04).

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. Roman. Aus dem Französischen von Hainer Kober, Berlin Verlag, Berlin 2008, gebunden, 1.388 Seiten, 36 Euro

Foto: Heinrich Himmler vor jungen SS-Männern: Den Terminator zu spielen, ist eine Sache, in ihm einen Menschen zu sehen, ist unmöglich

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