© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/08 29. Februar 2008

Proletarische Epikureer
Die englische Arbeiterklasse zum Anfassen: Alan Sillitoes widerborstige, realistische Milieustudien der fünfziger Jahre
Heinz-Joachim Müllenbrock

Am 4. März begeht Alan Sillitoe seinen achtzigsten Geburtstag. Vor fünfzig Jahren trug sich der aus der Arbeiterklasse stammende Autor mit dem Erscheinen seines Roman­erstlings "Saturday Night and Sunday Morning" (1958) in die Landkarte der englischen Nachkriegsliteratur ein. Der sogar als ein zweiter D. H. Lawrence begrüßte Sillitoe hatte bei der literarischen Verarbeitung zeitgenössischer sozialer Probleme unverkennbar neue Töne angeschlagen.

"Saturday Night and Sunday Morning" (dt. "Samstagnacht und Sonntagmorgen") schildert das dem Autor vertraute Arbeitermilieu Nottinghams. Hauptfigur ist der 21jährige, gegen jede Art staatlich-gesellschaftlicher Autorität aufbegehrende Arthur Seaton, der sonnabends der Eintönigkeit seiner mechanisierten Arbeitswelt entflieht. Dann stürzt er sich in einen amoralischen Vergnügungstaumel, der von sexueller Freizügigkeit und alkoholischen Exzessen geprägt ist. Die Ernüchterung am Sonntagmorgen nötigt ihn in die Realitäten normaler Lebensführung zurück, denen er sich widerstrebend durch die Bindung an die Arbeiterin Doreen fügt.

Das Thema eines jugendlichen Protagonisten, der sich gegenüber den durch das Establishment ausgeübten gesellschaftlichen Zwängen zu behaupten versucht, verweist auf den kulturellen Kontext der fünfziger Jahre in England. In diesem Jahrzehnt artikulierte eine Generation junger Autoren, für die sich trotz unscharfer Gruppenidentität die Sammelbezeichnung Angry Young Men im Anschluß an John Osbornes Drama "Look Back in Anger" (1956) einbürgerte, ihren anhaltenden Protest gegen die Verkrustungen der englischen Gesellschaft. Er richtete sich gegen ein Land, das, äußerlich noch intakt, aber innerlich schon brüchig, seine hierarchische Klassenstruktur konservierte und trotz der Verheißungen des Wohlfahrtsstaates kaum soziale Mobilität ermöglichte. Obwohl die in dieser Dekade veröffentlichten Romane jeweils unterschiedliche individuelle Facettierungen aufweisen, besteht ihr gemeinsamer Nenner in der Protesthaltung gegen das Beharrungsvermögen des Establishment.

Während John Wains "Hurry on Down (1953) und Kingsley Amis' "Lucky Jim" (1954) die Hohlheit der Gesellschaft aus der Perspektive nonkonformistischer Universitätsabsolventen beleuchten, steht im Mittelpunkt von John Braines "Room at the Top" (1957) ein ehrgeiziger, aber skrupelloser Arbeitersohn, der sich rücksichtslos bis in die obersten Ränge der bürgerlichen Gesellschaft durchboxt.

"Saturday Night and Sunday Morning" rundet das Romanschaffen der fünfziger Jahre in markanter Weise ab. Mit den erwähnten Romanciers teilt Sillitoe die Absage an die hochgezüchtete literarische Artistik von Autoren der Moderne wie Virginia Woolf, James Joyce und T.S. Eliot, insbesondere das elitäre Künstlertum Bloomsburys. Sillitoes wohlbedachte Selbstbescheidung kommt in diesem Roman wie auch in der Kurzgeschichte "The Loneliness of the Long-Distance Runner" (1959) konzentrierten Wirkungen zugute. So schneidet er die Umgangssprache auf den in naturalistischer Kraßheit wiedergegebenen Soziolekt der englischen Arbeiterklasse zu.

Daß, wie zu Recht gesagt wird, die Romane der fünfziger Jahre von besonderem soziologischen Interesse seien, gilt namentlich für Sillitoe. Dessen Erzählungen schildern ungeschminkt die Lebensumstände der in ihrer materiellen Robustheit und emotionalen Vitalität vergegenwärtigten Arbeiterklasse mit einer Intensität, die auch heute noch von Angehörigen dieser Schicht nachempfunden werden kann. England hat seine Klassenunterschiede viel stärker bewahrt als beispielsweise Deutschland. Gerade mentalitätsmäßig gewähren Sillitoes Erzählungen tiefere Einblicke in das Befinden der Arbeiterschaft als gelehrte Abhandlungen. Obwohl - oder auch weil - der Autor sich jeglichen sozialreformerischen oder gar aktivistischen Eifers enthält, kann er innerer Gestimmtheit um so deutlicheren Ausdruck geben. So fühlt sich der Rebell Arthur Seaton ständig in einem aufreibenden Kampf mit der Gesellschaft, der durch das regelmäßig wiederkehrende Leitbild des Dschungels veranschaulicht wird. Anders als Joe Lampton, der opportunistische Held von "Room at the Top", und Jimmy Porter in "Look Back in Anger" verschmäht er es, überhaupt erst an die Türen des Establishment zu klopfen, und zieht es vor, sich in der anarchischen Freiheit eines proletarischen Epikureers auszuleben. Am schärfsten hat Sillitoe die Kluft zwischen Ober- und Unterschicht, zwischen Them und Us, in "The Lonelineness of the Long-Distance Runner" umrissen. Es handelt sich um die in der Ichform erzählte Geschichte des zur Arbeiterklasse gehörenden 17jährigen Colin Smith, der als Insasse einer Besserungsanstalt im Langstreckenlauf Muße zur Selbstbesinnung findet. Bei einem als Schauveranstaltung für Honoratioren inszenierten Wettlauf unterliegt er absichtlich, weil er es ablehnt, sich den vom Anstaltsleiter verkörperten Normen der Gesellschaft anzupassen. Immer wieder setzt er den Geltungsanspruch seiner Auffassung von Ehrlichkeit - das Testwort "honest" hat inquisitorische Qualität - gegen den zu äußerem Konformismus auffordernden Standpunkt des Direktors. In seinem trotzigen Abwägen zeichnen sich die scharfen Kanten proletarischen Pochens auf Selbstachtung ab, die Sillitoe seinem literarischen Rohdiamanten nicht abschleifen wollte.

Sillitoes auch gegenüber Labour Party und Gewerkschaften abweisende Erzählungen stellen eine eigenwillige, unverwechselbare Variante der gesellschaftskritischen Romanliteratur der fünfziger Jahre dar. Ohne klassenkämpferisches Programm geschrieben, bringen sie gerade in ihrer unideologischen Chuzpe gegenüber den linguistisch verunglimpften herrschenden Schichten Sillitoes soziales Engagement auf emotionaler Ebene zu Bewußtsein. Mögen sie auf lange Sicht den Sprung in die Höhenkammliteratur auch nicht ganz schaffen, so bleiben diese widerborstigen Milieustudien aufgrund ihrer mentalitätsmäßigen Authentizität zumindest Zeugnisse von hohem sozialgeschichtlichem Wert.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist Emeritus für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Joseph Conrad (JF 49/07).

Foto: Alan Sillitoe: Absage an eine hochgezüchtete literarische Artistik

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