© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/08 07. März 2008

Die Kühle der dritten Generation
In Bonn widmete sich Ende Februar eine Tagung dem "militärischen Widerstand gegen Hitler im Licht neuer Kontroversen"
Günther Gillessen

Vor vier Jahren brach unter den Historikern des deutschen Wi-derstands gegen Hitler die Frage auf, wann die Offiziere um Henning von Tresckow im Stab der Heeresgruppe Mitte von den Verbrechen der SS im rückwärtigen Gebiet erfuhren, wie sie darauf reagierten und wann sie den Entschluß zur Verschwörung faßten. Die Frage ist wichtig, weil damit ihre Beweggründe in den Blick kommen. Das war soeben auch der Fall auf einer von Joachim Scholtysek im Bonner "Haus der Geschichte" ausgerichteten Tagung der "Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944".

Johannes Hürter, ein jüngerer Historiker am Münchner Institut für Zeitgeschichte und Autor eines vielbeachteten Buches über die Oberbefehlshaber des Heeres im ersten Jahre des Rußlandkrieges (JF 46/06), hatte den Streit in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte (1/2004) mit dem Vorwurf eröffnet, die Verschwörergruppe habe verheimlicht, daß sie schon im Sommer 1941, wesentlich früher als bisher aus ihrem Kreise dargestellt, von den Massenmorden der Einsatzgruppen der SS hinter der Front gewußt, ihrem Treiben zugesehen und sich erst im Oktober 1941 von dem Massaker von Borissow zum Widerstand habe aufrütteln lassen.

Hürter legte dazu zwei bislang unbekannte Dokumente, Kopien aus Beständen eines sowjetischen Archivs, vor, die belegen, daß Rudolf-Christoph von Gersdorff, Feindnachrichten-Offizier (Ic/RA) und Tresckow, der Erste Generalstabsoffizier (Ia) im Stab der Heeresgruppe, im Juli 1941 zwei Wochenstatistiken Arthur Nebes über die Tötung politischer Kommissare, Partisanen und Gruppen jüdischer Zivilpersonen im rückwärtigen Gebiet der Heeresgruppe erhalten, gelesen und unkommentiert abgezeichnet hatten.

Die Entdeckung dieser beiden Dokumente widerspricht einer Passage in den Erinnerungen Gersdorffs, daß das Massaker der SS bei Borissow (21/22. Oktober 1941) ihn und seine Freunde zum ersten Mal mit Verbrechen der SS konfrontiert habe. Die Erinnerungen Schlabrendorffs vermitteln den gleichen Eindruck, ohne daß er dies ebenso bestimmt formulierte. Dem Massaker fiel die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt inklusive Frauen und Kinder zum Opfer, über 7.000 Personen. Hürter meint, den beiden Offizieren vorwerfen zu dürfen, sie hätten zu verstecken versucht, daß sie schon aus Nebes Berichten im Juli von großen Mordtaten seiner SS-Verbände erfahren hatten, ohne darauf zu reagieren. Das Gewissen Tresckows und Gersdorffs, so wiederholte Hürter auf der Bonner Tagung, habe sich mit Verzögerung erst dann zu Wort gemeldet, erst nach Borrissow im Oktober 1941, als sich auch die Kriegslage im Osten verschlechtert und es keine Aussicht mehr auf einen raschen Zusammenbruch der sowjetischen Verteidigung gegeben habe. Dem läßt sich entgegenhalten, daß es bei der Heeresgruppe Ende September wieder voranging, als Tresckow seinen Vertrauten Schlabrendorff nach Berlin schickte, um Kontakt zu den Angehörigen ziviler Widerstandskreise zu suchen - also drei Wochen vor Borissow.

Doch wirklich neu war im Jahre 2004 eigentlich nicht, was Hürter gefunden hatte. Wesentlich gröber hatte Christian Gerlach in den neunziger Jahren in dem Begleitbuch zu der Ausstellung von Hannes Heer über "Verbrechen der Wehrmacht" Tresckow und Gersdorff als Komplizen der SS vom ersten Kriegstag an dargestellt. Und lange vor Gerlach hatte Hans Mommsen, freilich subtiler, gemeint, Tresckow sei 1941 zu seinen Protesten bei Feldmarschall Fedor von Bock weniger von moralischen Motiven bewegt gewesen als von dem Verlangen nach besserer Kriegsführung durch Verdrängung Hitlers aus der unmittelbaren Führung von Operationen.

Die Verschwörergruppe um Tresckow war so klug, oder gegenüber manchem ihrer heutigen Kritiker so unklug, weder den Entschluß zur Verschwörung noch die Gründe im Kriegstagebuch der Heeresgruppe vermerken zu lassen. Mißlich ist auch, daß das im Freiburger Militärarchiv aufbewahrte Kriegstagebuch der Heeresgruppe Mitte Lücken enthält. Eine klafft ausgerechnet in den Monaten Juni und Juli 1941. Aus dem Umstand, daß es in Nebes Tötungsstatistik außer Tresckows Paraphe und Gersdorffs Addition nichts Weiteres zu lesen gibt, kann man weder schließen, daß sie dazu geschwiegen haben, noch daß sie bei Feldmarschall von Bock, einem Onkel Tresckows, vorstellig geworden sind. Jedenfalls aber bestellte Bock sich im August Nebe ins Hauptquartier und bat um Auskünfte. Nach diesem Datum meldete Nebe in seinen Wochenmeldungen der Heeresgruppe geringere Zahlen getöteter politischer Kommissare, Freischärler und "jüdischer Bolschewisten" an Heydrich und Himmler im Reichssicherheitshauptamt. Welche Zahlen waren "getürkt", und warum wohl?

Hermann Graml, langjähriger Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte und früherer Chefredakteur der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, nutzte seinen Vortrag in Bonn zur Lehrstunde über den Umgang mit Quellen und über Probleme mit Zeitzeugen. Nicht nur Zeugen können sich irren oder lügen, auch Akten können das, weil sie Urheber mit Zwecken und Interessen haben. Im Falle gravierender Widersprüche, erst recht in Zeiten einer teuflischen Diktatur, neige er, Graml, als alter Mann dazu, eher seinem eigenen Eindruck von der Person, die er befragt habe, als einem entgegenstehenden Aktenstück zu trauen. Junge Zeithistoriker, die diese Umstände nicht selbst erleben mußten, sähen das anders. Daß sie aus größerer Distanz auf die hinterlassenen Akten schauen, gebe ihnen Unbefangenheit, aber erschwere ihnen auch das unmittelbare Verständ-nis aus eigenen Erlebnissen.

Hürter wollte sich in der Bonner Diskussion gar nicht auf einen Diskussion über die Bedeutung von Paraphen einlassen, von denen Gerlach so viel hergemacht und Mommsen sich seinerzeit sehr beeindruckt gezeigt hatte. "Das ist vorbei." Aber im Streit um Vorher und Nachher und um die Behauptung "verzögerter" moralischer Reaktion gab er nicht nach, ohne anscheinend zu bemerken, daß ihm auch unter Verzicht auf einen Paraphen-Streit die Dokumente fehlen, die beweisen könnten, was er für erwiesen hält.

Der Freiburger Historiker Jürgen Förster wandte ein, es habe wenig Sinn, den Nachweis des moralischen Motivs der Verschwörergruppe vom Datum des ersten Gebrauchs des Begriffs "Judenmord" abhängig zu machen. Das verenge in unzulässiger Weise die Beantwortung der Frage. Peter Hoffmann hatte keine Mühe, aus seiner großen Kenntnis des gesamten Stoffes darzulegen, daß das moralische Motiv der Widerstandsbewegung in allen Etappen, von ihren Anfängen an, bis zum 20. Juli 1944, nachweisbar ist. Bei Tresckow beginnt der Prozeß bei Hitlers "Röhmputsch" (1934). Fast alles, was Personen in den Widerstand führte, hatte eine moralische Qualität: die Kritik an Hitlers Außenpolitik aus Verantwortung für das eigene Volk und die Nachbarvölker, das Verlangen nach Wiederherstellung des Rechtsstaates, das Entsetzen über die Außerkraftsetzung von Grundregeln der Haager Landkriegsordnung, die Pflicht von Offizieren zur Aufrechterhaltung der "Manneszucht" in der Truppe. Wäre es gelungen, die Rechtsordnung wiederherzustellen, und in den Streitkräften das normale Kriegsvölkerrecht zu bewahren - was nur mit geschlossenem Auftreten der Feldmarschälle und Armee-Oberbefehlshaber hätte erzwungen werden können, dann wären unter dem Schutz der Rechtsordnung auch die Juden mitgeschützt worden, ohne besonders von ihnen zu reden.

Für die Haltung Tresckows just in den beiden Monaten, für die das Kriegstagebuch der Heeresgruppe Mitte fehlt und in denen seine moralische Aufmerksamkeit geschlafen haben soll, gibt es indessen einen aufschlußreichen Vorgang im "Kriegstagebuch des Kommandostabes Reichsführer SS", das schon Gerlach benutzt hatte, freilich ohne die Pointe zu erkennen. Dem SS-Tagebuch ist zu entnehmen, daß Tresckow und Kurt Knobloch, der Chef des Stabes der SS-Verbände, sich am 19. Juni 1941 über die Verwendung zweier SS-Brigaden und zweier SS-Kavallerie-Regimenter im Gebiet der Heeresgruppe Mitte verständigten. Die vier Verbände wurden dem Kommando der XXXXII. Armee unterstellt. Das Armeekommando setzte sie nach Beginn des Angriffs am 22. Juni wie gewöhnliche Truppen des Heeres zur Sicherung der Versorgungslinien im Hinterland ein. Fünf Tage später wurde Himmler darauf aufmerksam und entzog der XXXXII. Armee sofort die SS-Truppenteile, da ihre Verwendung "den allgemeinen Abmachungen widerspricht" und er "sie für andere Aufgaben benötigt". Mit den "allgemeinen Abmachungen" waren die Verabredungen zwischen Heydrich und dem Generalquartiermeister des Heeres, General Eduard Wagner, vom März und April 1941 über die "Sicherungsaufgaben" der SS gemeint, die ominöse Tarnbezeichnung für die den Einsatzgruppen aufgetragenen Verbrechen. Dem Ablauf dieser Vorgänge ist zu entnehmen, daß Tresckow umsichtig und unter listigem Gebrauch auch anders auslegbarer Begriffe wie "Sicherungsaufgaben" oder Bekämpfung von Freischärlern die SS-Verbände mit normalen militärischen Bewachungsaufgaben zu beschäftigen suchte, um ihnen keine Gelegenheit zu geben, die Untaten zu begehen, für die Himmler sie bestimmt hatte.

Der Einblick in den Stand der Widerstandsforschung und des Streites zwischen jüngeren und älteren Zeithistorikern legt nahe, von einer Regression des Forschungsinteresses zu sprechen. Der ersten Generation, zu der Hans Rothfehls, Gerhard Ritter und auch Eberhard Zeller zählten, hat die zweite, vertreten vor allem von Martin Broszat und Hans Mommsen, vorgeworfen, die Männer des Widerstands als Helden und Heilige dargestellt zu haben. Die zweite Genereration fing damit an, die Widerstandsbewegung zu "historisieren", und ihre Mitglieder realistisch als Individuen, auch mit ihren "national-konservativen", ständischen, sozial-utopischen, demokratieskeptischen Befangenheiten samt dem unter ihnen verbreiteten "Feld-Wald-und-Wiesen-Antisemitismus" (Klemens von Klemperer) zu beschreiben, auch anfängliche Sympathien und Unterstützung der "nationalen Erhebung" Hitlers zu verzeichnen. Der Versuch, das Regime zu stürzen, erforderte nicht nur den Willen, sondern auch Machtmittel dazu. Das zwang auch zu Akten scheinbarer Kollaboration.

Die "Historisierung" hat dem Bild des 20. Juli gutgetan, weil sie die Länge und die Schwierigkeit des Weges zur Sprengung der Fesseln von Gehorsam und Eid und zur Bereitschaft zu Hoch- und in einigen Fällen sogar zu "Landesverrat" um des Landes willen zeigte, was den ganzen Prozeß noch staunenswerter machte.

Nun aber, in der dritten Forscher-Generation geht die Reise auf der Suche nach dem Stichwort "Judenmord" wieder in die moralistische Verengung, jetzt freilich nicht mehr zur Verherrlichung von Helden, sondern zur Entdeckung moralischer Defizite unter diesem Rubrum. Man täte Hürter und manchem anderen, der sich von seinem Argument beeindrucken läßt, unrecht, wenn man meinte, das sei ihre Absicht. Auch ist ja der Abstand, der Hürter von Gerlach unterscheidet, nicht zu übersehen.

Aber es überrascht doch die Kühle, um nicht zu sagen die Gefühllosigkeit, mit der vermeintlich penibel jetzt auch das Gelände der Widerstandsbewegung nach Spuren des Antisemitismus abgesucht wird, statt sich realistisch mit den Umständen und den Grenzen zu beschäftigen, unter denen Widerstand möglich war. Denn die im Ablauf der Zeit zunehmende Verdüsterung des Bildes der Wehrmacht droht auch das Bild des militärischen Widerstands zu verdüstern.

Die Widerständler haben ihren punktuell-kritischen und allzu aktengläubigen Kritikern etwas voraus, das diese nie einholen können. Sie haben für die Wiederherstellung des Rechtsstaates den höchsten Preis eingesetzt, den es gibt, und ihn auch zahlen müssen. Das gibt uns das Recht, in schwerem Zweifel weniger den Akten zu vertrauen als ihnen selbst.

 

Prof. Dr. Günther Gillessen leitete an der Universität Mainz das Journalistische Seminar und war politischer Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

 

Foto: Henning von Tresckow mit jungen Offizieren im Generalstab der Heeresgruppe Mitte 1942, Foto aus dem Film "Offiziere gegen Hitler - Aufstand des Gewissens": Auch Akten können lügen

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